Aktualisierung: Juni 2019[*]
Erste Fassung: Juli 2018
Es liegt an uns und an euch,
den einzigen Weg, der unsere Zukunft sichert, zu ebnen.
Es ist die Neubegründung eines souveränen,
geeinten und demokratischen Europa.
Emmanuel Macron (2018)[1]
Am 06. Juli fand ein Symposium zum 90. Jahrestag von Prof. Dr. Wilhelm Ersil statt. Der Ehrengast hielt an der Universität Potsdam einen hochinteressanten Vortrag, dem eine kontroverse Diskussion folgte. Anschließend wurde der Europa- und Deutschland-Forscher Willi Ersil zum Honorary Research Fellow des kürzlich gegründeten WeltTrends-Institutes für Internationale Politik berufen.
Thesenartig einige wichtige Positionen der Teilnehmer, die ausführlich in der „Festschrift zum 90. Geburtstag von Prof. Dr. Wilhelm Ersil“, herausgegeben von Prof. Dr. Raimund Krämer, nachgelesen werden können.
1. Europäische Umbrüche
Wilhelm Ersil: Es lässt sich leicht sagen, die EU befände sich in einer existenziellen Krise. Aber worin besteht diese „Krise“ und wichtiger noch, wie kann sie gelöst werden?
Emmanuelle Macron hat vorgeschlagen die EU neu zu gründen. Was das genau bedeutet bleibt offen. Die gesetzten Impulse, v.a. ein Haushalt für die Eurozone unter Zuständigkeit des Parlamentes, werden sich angesichts des politischen Widerstandes so nicht erfüllen. Bereits elf Staaten protestierten gegen die Beschlüsse von Meseberg.
Die deutsche Idee eines(!) Kerneuropas ist nicht realistisch. Zukünftig wird sich die EU entlang mehrere Kerne ausdifferenzieren. Neben den alten Scheidelinien (EURO, Schengen…) treten neue hinzu (PESCO, EURO-Haushalt, Migrationsabkommen…). Da gegensätzliche Interessen Neufassungen der EU-Verträge verhindern, realisieren sich die Projekte intergouvernemental – außerhalb der klassischen Strukturen. In diesem Sinne findet ein begrenzter Zerfall statt. Auch der Austritt weiterer Mitglieder ist wahrscheinlich.
Kai Kleinwächter: Die Diskussion von der europäischen Krise ist teilweise absurd. In anderen Regionen verlaufen die Umbrüche wesentlich schwerer und katastrophaler. Mehrfach befand sich die EU in existenziellen Krisen – in den 1960er, 1970er, den 1980/90er Jahren. Bisher ging sie immer gestärkt daraus hervor. Zugespitzt entstand die Vorläufer der EU sogar aus der Krise des Europarates, als Ende der 1940er Jahre Pläne für „die vereinigten Staaten von Europa“ scheiterten.
2. Brexit
Gerry Woop: Der Brexit bedeutet einen historischen Einschnitt. Bisher wurde die Union immer als Erweiterung gedacht. Jetzt kehrt sich dies erstmals um – die EU schrumpft.
Wilhelm Ersil: Leider wird die Brexit-Diskussion sowohl in Großbritannien als auch der EU primär unter innenpolitischen Gesichtspunkten geführt – Wie sollen nach dem Brexit die Subventionen und Steuermittel neu verteilt werden? Wer siegt bei den nächsten Wahlen? Welche Wirtschaftssektoren profitieren?… Strategisch stellt sich aber die Frage, welchen Anreiz der Austritt für andere Mitglieder bietet ebenfalls zu gehen? Der Brexit zeigt eine machtpolitische Alternative zur Integration auf.
Erhard Crome: Die politische Stärke Deutschlands war in Teilen nur Illusion. Sie reicht(e) nur soweit, wie die politischen Interessen mit anderen Mitgliedsstaaten insbesondere aus Osteuropa übereinstimmten. Die dort amtierenden Regierungen sind anti-russisch und neoliberal. Für die Unterstützung einer solche Politik musste dort kein Claqueur bestellt werden.[2] Der Brexit, aus britischer Sicht eine Antwort auf die deutsche Hegemonie, zeigt die Grenzen des deutschen Einflusses auf.
Diese Sichtweise prägt auch den US-amerikanischen Präsidenten Trump, dessen engster Berater in europäischen Fragen Nigel Farage ist. Aus dessen Sicht ist die EU ein deutsches Machtinstrument. Ihre Schwächung oder gar Zerschlagung drängt den Einfluss Deutschlands zurück.
Alles ist in Bewegung.
Wir wissen nicht mehr, wie der nächste Monat oder gar die nächste Woche aussieht.
Diese beängstigende Instabilität hat ihren Ursprung auch
in der gegenwärtigen Instabilität in Deutschland.
Cornelia Ernst[3]
3. Flucht und Migration
Ehrlicher als die meisten Analysten erklärte Ersil: „Mir war das Problem intellektuell klar. Aber ich habe es nicht verstanden. Das es die Grundfesten der EU so erschüttern kann, habe ich nicht gesehen.“ Wie können die Grenzen gesichert werden, die EU zusammengehalten werden, ohne die Solidarität gegenüber denen die kommen aufzugeben?
Erhard Crome: Die Flüchtlingsfrage ist das Feld, wo die Nationalisten Deutschland vorführen. Sie zeigen deutlich, dass Deutschland nicht alles durchsetzen kann.
4. Weltordnung
Wilhelm Ersil: Die globale Ordnung entwickelt sich vom Bi- zum Multi-Polarismus. Das auszutarieren gestaltet sich äußerst konfliktreich. Im Rahmen dieses Prozesses, erleben derzeit alle Großstaaten tektonische Erschütterungen.
In den westlichen Staaten werden diese vor allem in den Erosionen der Parteiensysteme sowie der partiellen Handlungsunfähigkeit der Eliten sichtbar. Aber diese Neujustierung der inneren Kräfteverhälnisse wird nicht völlig zu veränderten Positionen führen. Bestimmende Konstanten bleiben erhalten.
Dabei ist nachwievor unklar, welche Bedeutung eine kapitalbeherrschte EU erreichen kann. Zumal der Austritt Großbritanniens – neben Deutschland und Frankreich die bedeutendste Ökonomie sowie wichtigste Militärmacht in der EU – die globale Position der Union erheblich schwächt.
Wie immer in Krisenzeiten tauchen jetzt Forderungen nach Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene auf. Aber die beschränkte außenpolitische Handlungsfähig wird sich dadurch nicht lösen lassen. Ohne politische Einigung zumindest einiger kerneuropäischer Staaten wird es keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geben. Zu dieser könnte auch Großbritannien gehören, dass in militärischen Fragen weiterhin mit der EU zusammenarbeitet.
Hauptkonfliktfeld ist die Neujustierung des Verhältnisses zu Russland und den USA. Bisher stimmten auch die neuen (rechten) Regierungen in der EU, wie Italien oder Österreich, den Sanktionen gegen Russland zu. Aber dieses Korsett wird brechen.[5] Gleichzeitig gehen die USA gegen die EU vor. So bot Trump dem französischen Präsidenten einen bevorzugten Handelsdeal an, wenn dieser Frankreich aus der EU führt.
Mit den Umbrüchen kommen alte Ideen wieder. Wie wirkmächtig werden die Habsburger-Ideologie bzw. die der Jagiellonen (heute Visegrad-Gruppe) sein? Und vor allem, wie stark ist ihre außer-europäische Wirkung? Wird es – zugespitzt – in Zukunft eine Achse Waschington – Warschau/Osteuropa geben?
Aber auch Teile der (deutschen) Eliten blicken rückwärts. Sie gaben den Traum von der Kernwaffe nie auf. Ersil schrieb seinen ersten Artikel 1954/55 gegen die Pariser Verträge – gegen das Teufelszeug. Heute nach über 60 Jahren versuchen konservativen Kräfte (wieder) die „force de frappe“ zu europäisieren.
Diese Entwicklung stehen im Einklang mit anderen Bestrebungen eine Hegemonie Deutschlands in Europa durchzusetzen – der Bildung einer deutschen EU sozusagen. Gleichzeitig allerdings zeigen sich starke Strömungen, die ein Vasallenverhältnis mit den USA anstreben. Beide geraten zunehmend in Konflikt miteinander.

Helmut Scholz: Die EU agiert in einem globalen Markt. Neben dem Aufstiegs Chinas bedeutet vor allem die Verschiebung der demographischen Gewichte eine Herausforderung. Wie gehen wir damit um, wenn Afrika bis 2050 2,5 Mrd. Einwohner hat? Welchen Einfluss bzw. welche Ziele haben wir für eine global-digitale Wirtschaft im Angesichts der Formierung transnationaler Monopole? Die Antworten werden die Entwicklung der EU prägen.
Die EU muss sozial sein; oder sie wird nicht sein.
Ergänzung Scholz: Sie muss auch demokratisch sein
André Brie und Helmut Scholz
5. EU-Wahlen
Wilhelm Ersil: In wenigen Monaten finden die Europawahlen statt. Die politische Entwicklung in den Nationalstaaten kommt dann im EU-Parlament an. Die Rechten gewinnen an Sitzen und Einfluss. Ebenfalls bilden sich neue Formationen, inklusive des Austrittes aus der linken Fraktion. Dabei wäre eine Bündelung der Kräfte notwendig. Die Linke muss ihre inhaltliche Haltung klären, um einen progressiven Einfluss zu erlangen.
Gerry Woop: Die EU hat ihren Zweck, nach den Weltkriegen eine Region des Wohlstandes zu schaffen, erreicht. Bis heute prägt sie dieses Primat des ökonomischen. In Folge mangelt es an der sozialen Dimension und damit eng verknüpft an einer europäischen Besteuerung. Hier wären substanzielle Veränderungen im Gefüge der EU notwendig.
Der Zerfall findet real statt. So wird es in der EU immer schwieriger (soziale) Mehrheiten zu organisieren. Gleichzeitig setzen politische Strömungen deutliche Signale, dass sie von Europa kaum mehr etwas erwarten. So schickt Bayern kein politisches Personal mehr zu den Sitzungen des Rates der Regionen – nur noch Beamte. Auch Ansätze zu transnationalen Listen sind – zumindest in der Linken – gescheitert.

Helmut Scholz: Die EU ist eine Mehrebenen-Struktur dominiert von der nationalen Ebene. Ob sie intergovernmental – als nationale Politik auf Europaebene – oder gemeinschaftlich – als Politik für Europa – funktionieren soll, ist bis heute eine unbeantwortete Frage.
Teile der linken Bewegung glauben nicht mehr an die Reformierbarkeit. So fordert Jean-Luc Mélenchon (Vorsitzende der Sozialisten in Frankreich; Parti de Gauche), die EU-Verträge zu zerreißen.[4]
Für die LINKE stellt sich die Frage, wie dieses Mehrebenen-Projekt, so in Bewegung gesetzt werden kann, dass sich die Menschen damit (wieder) identifizieren. Es geht um Weiterentwicklung hin, zu einer europäischen Republik.
Lutz Kleinwächter: Die Herrschaftsgruppierung ist in sich zerrissen. So tritt der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft für ein (ökonomisches) Bündnis mit Russland ein. Er positioniert sich dezidiert gegen die einseitige transatlantische Ausrichtung. Diese realistischen Bündnispartner des bürgerlichen Lagers sollten genutzt werden. Ziel wäre, mit Russland und China eine EurAsische Allianz zu formen.

Wilhelm Ersil (Ergänzung nach den Europawahlen): Es gab eine historische Niederlage der Linken in der Europapolitik. Diese geht spiegelbildlich mit einem massiven Rechtsruck einher. Insbesondere in Osteuropa zeigt sich der Übergang vom Wirtschaftsliberalismus zum Autoritarismus. Hoffnung auf eine kurzfristige Umkehr sind illusionär.
Neben vielen Herausforderungen schafften es die linken Strömugen / Parteien nicht, den inneren und äußeren Differenzierungen ein neues, überzeugendes und vor allem gemeinsames Projekt entgegenzusetzen.
Insbesondere erfassen sie nicht die Ambivalenz der EU-Machtpolitik. Es gibt erhebliche Scheu anzuerkennen, dass erstens die EU ein weltpolitischer Machtfaktor ist. Diesen kann man auch nicht abbauen. Und das zweitens, der daraus erwachsene Einfluß auch ein positiver ist bzw. positiv genutzt werden muss.

Ansätze – zumal in Zeiten der Krise – soziale Bewegungen stärker einzubeziehen, bedürfen ernsthafter Diskussionen. Zumal diese in heutiger Zeit nicht mehr „konterrevolutionär“ sind. Auf Bewegungen wie Fridays for Future oder – wenn auch problematischer – den Gelbwesten kann eine progressive Transformation hin zu einem demokratisch-grünen-Sozialismus aufbauen.
Auf eine bessere Welt nur zu hoffen, ist nicht real.
Fußnoten
[*] Die Thesen von Professor Ersil wurden vor allem in Punkt 5 „Europawahlen“ ergänzt. Grundlage bildete sein Vortrag anläßlich des IIB-Alumni-Treffens des Institutes fü im Juni 2019. Selbstwußt sprach er dabei von sich als letzter lebender Repräsentatnt der alten Leitungsebene des Institutes für Internationale Beziehungen (IIB) der DDR. Selbstironisch: „Dabei trete ich wohl keinem zunahe, der älter ist als ich.“

[1] Aus der Europarede von Emanuelle Macron vom 26.09.2017 – PDF S. 3.
[2] Anspielung auf eine Reportage der jungen Welt. Ersil hatte auf diese in seinem Vortrag Bezug genommen.
[3] Bähr, Sebastian: Eine europäische Lösung – Interview mit Cornelia Ernst; nd 02.07.2017 S. 2.
[4] Inzwischen ist die von ihm gegründete und geführte Parti de Gauche aus der Partei der Europäischen Linken (EL) ausgetreten. Parallel dazu wird die Gründung einer neuen europäischen Linkspartei vorbereitet. Ob die Parti de Gauche zukünftig noch in der linken Fraktion im EU-Parlament, der Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL), organisiert sein wird ist offen. Offizieller Grund ist die Griechenlandpolitik. Dahinter liegen aber grundsätzlich Differenzen über die europäische Ausrichtungen der linken Parteien. Vgl. Klingsieck, Ralf: „Der Verrat von Tsipras“; neues deutschland 06.07.2018, S. 7.
[5] Ein womöglich erster Schritt: Die von Frankreich und Deutschland im Juni 2019 vorangebrachte Wiederaufnahme Russlands in den Europarat. Fünf Jahre zuvor (2014) wurden den russischen Abgeordneten, als Sanktion für die Krimbesetzung, Stimmrechte und weitere Rechte verweigert. Russland zog daraufhin seine Vertreter aus dem Rat zurück. Russische Quellen sprechen davon, dass 39 von 47 Ländervertretungen für diesen Schritt stimmten.
Quelle: Pany, Thomas: Europarat. Rückkehr russischer Abgeordneter als „diplomatische Revolution“; telepolis 24.06.2019.
Quellen
Birg, Herwig: Entwicklung der Weltbevölkerung; Informationen zur politischen Bildung Nr. 282/2011.
Kleinwächter, Kai: Macht – Bevölkerung – Politik; telepolis 2012.
Bildnachweis
Titelfoto (Prof. Dr. Wilhelm Ersil während seines Vortrags) + Foto vom Buch „Nachdenken über Europa“: © Christian Spicker Juli 2018.
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