Nachfrageüberhang in der DDR-Wirtschaft

Im Wirtschaftssystem DDR waren mehrere Probleme miteinander verwoben. Die folgenden Gedanken stammen aus der Dokumentation „Mit Fantasie gegen den Mangel – Leben im Schatten der Planwirtschaft“ (IT WORKS! Medien GmbH 2008). Eine Besprechung findet sich im neuen deutschland. (Fritsche 2008).

1. Kaufkraft ohne Konsum

Auf Grund der relativ hohen Löhne (und keiner Arbeitslosigkeit) bei gleichzeitiger Mangelproduktion stand der Kaufkraft keine adäquate Konsumwelt gegenüber. Es existierten große Bestände an Sparguthaben, die kaum rational ausgegeben werden konnten.

Das Ungleichgewicht von (potentieller) Kaufkraft und realen Konsummöglichkeiten wurde durch politische Faktoren verschärft. Einerseits subventionierte die DDR viele Alltagswaren. Die Verkaufspreise lagen unter den eigentlichen Herstellungskosten.

„Wir hatten dann tatsächlich Salamander-Schuhe mit diesen Preisen, die für die DDR natürlich stattliche Preise waren. Sie mussten trotzdem staatlich gestützt werden – in Ergänzung zu den Kinderschuhen etc. – am Ende hatte mein Unternehmen 1 Mrd. Stützung aus dem Staatshaushalt gebraucht. Um die 90 Mio. Paar Schuhe zu verkaufen. Ein ökonomischer Wahnsinn größter Dimension. Eine der zahllosen Ursachen für den Untergang der DDR.“
Joachim Lezoch – Kombinat Schuhe – Generaldirektor (Worst 2011, 31:10)

Andererseits beschränkte der Staat gezielt die Produktion bestimmter Güter. Ein Beispiel war die Produktion von Fahrzeugen. Das für Benzin benötigte Rohöl war knapp und musste in Devisen bezahlt werden. Große Bestände an (teuren) Autos waren volkswirtschaftlich nicht darstellbar.

2. Handel mit westlichem Ausland

Der Export vieler (hochwertiger) Waren verschärfte die Ungleichgewichte zusätzlich. Sie standen nicht mehr dem heimischen Markt zur Verfügung. (Kleinwächter 2022)

Ebenfalls zeigte die oft genutzte Gestattungsproduktion hier ihre Nachteile. Bei dieser Form des Außenhandels wird der Import von Maschinen und Rohstoffen nicht mit Geld, sondern mit den produzierten Erzeugnissen bezahlt. Der Bedarf an Devisen verringert sich entsprechend.

Aber eine solche Produktion kann nur schwer auf die Bedürfnisse der Binnenwirtschaft reagieren. Die vertraglich fixierten Interessen der Geschäftspartner haben Vorrang. Die Wahrscheinlichkeit an der realen Nachfrage der eigenen Volkswirtschaft vorbei zu produzieren, erhöht sich deutlich. Zumal auf Grund der langen Vertragslaufzeiten, die volkswirtschaftliche Versorgung der Entwicklung im Herkunftsland der Maschinen hinterherhinkt. Die dortige Erneuerung der Produktionsmittel ist schneller. Wenn die DDR-Produktion der Binnenwirtschaft voll zur Verfügung stand, waren die produzierten Güter nicht auf den neuesten Stand.

3. Entstehung Untergrundproduktion

Der Überschuss an Kaufkraft beförderte die Entstehung kleiner Produktionsstrukturen für den Schwarzmarkt. Es entstand eine zunehmend differenzierte Schattenwirtschaft. (Kleinwächter 2013) Heute würde man die Akteure modern als „Maker“ oder in der Dritten-Welt als informeller Sektor bezeichnen. Sie stellten insbesondere Textilien und Schmuck her. Ausgangsprodukt der Produktion waren die oft hoch subventionierten Grundwaren wie Nähmaterialien, Bettwäsche oder einfache Stoffe. Die Produktion nahm dabei durchaus den Umfang kleiner (professioneller) Manufakturen an.

„Die Laken kostete so 10 oder 15 DDR-Mark. Daraus sind dann zwei Oberteile geworden. Die wurden dann für 85 – 100 Mark verkauft.“
Esther Friedemann (IT WORKS! Medien GmbH 2008 16:00ff)

„30 Mark Einsatz für die Jacken – für Stoff, Druckköpfe, Reisverschluss und dem Absteppfutter. Und 350 Mark war der Erlös. Also Profit 320 Mark.“
Tom Hendel (16:29ff) (IT WORKS! Medien GmbH 2008, 16:00ff)

Die obigen Angaben zeigen zweierlei. Einerseits stellten diese Strukturen meist keine betriebswirtschaftlich differenzierten Erfolgsrechnungen auf. Andererseits verdeutlichen schon diese wenigen Zahlen, dass sehr hohe Einkommen erzielbar waren – insbesondere im Verhältnis zu den DDR-Löhnen. Zumal keine Steuern gezahlt wurden, die Produktion in der subventionierten (Privat-)Wohnung stattfand etc.

„Natürlich war es eigentlich auf eine gewisse Art kriminell. Wir haben im großen Stile Steuerhinterziehung betrieben, weil man durfte im Monat nur so und so viel Geld nebenher verdienen – ohne es zu versteuern. Dadurch das wir aber quasi ein Loch gefüllt haben, was der Osten selbst nicht hinbekommen hat. Dadurch haben sie es ein bisschen toleriert – wenn man es nicht übertrieben hat. Ein bisschen Steuerhinterziehung betreiben, dafür ist die Volksseele etwas beruhigt, weil sie ihren Kaufrausch befriedigen kann. Was wir ja nicht abdecken können.“
Carsten Fiebeler (IT WORKS! Medien GmbH 2008, 28:20)

Allerdings täuscht der lockere Eindruck. Diese Strukturen wären auch im Westen kriminell gewesen – spätestens bei Fragen zu Versicherungen, Haftung, Verbraucherschutz oder auch Arbeitsrecht. Auch war die Herkunft der Materialien oft zumindest fragwürdig. Über Hamster- und Scheinkäufe bis hin zu Diebstahl war alles dabei.

„Um die Bündchen zu machen, hat man Turnhemden gekauft. Und Gummibänder und so ein Kram gab es ja überall. Kurzwaren haben ja nichts gekostet. Dass waren alles gestützte Preise. Die waren ja unter ferner liefen. Das war nur die Schwierigkeit das in ausreichender Menge zu erhalten. Da musste man sich echt was einfallen lassen. Man ist dann eben ins Haus für Sport und Freizeit gegangen und hat erzählt, man trainiert eine Handballmannschaft und dafür jetzt mal 30 Trikots braucht.“
Thoms Bautzer (IT WORKS! Medien GmbH 2008, 08:13ff)

4. Brückenfunktion

Ein Teil dieser Szene nahm Funktionen wahr, die heute E-Bay-Kleinanzeigen und Co. erfüllen. Auch in der DDR fand eine Auseinanderentwicklung der sozialen Schichten statt. Der homogene DDR-Mensch war mehr Fiktion als Realität. Was für viele nahezu wertlos war, zum Beispiel alte Möbel, fand bei anderen reißenden Absatz.

Aber wie an diese Gegenstände kommen, als es noch kein Internet gab? „Sammler“ wurden zu Mittlern zwischen Angebot und Nachfrage. Sie fuhren über die Dörfer, klappern ihre Netzwerke ab, sind bei Räumungen dabei, sehen sich auf Schrottplätzen und Flohmärkten um…

„Det hieß immer am Wochenende, wenn wir Langeweile hatten, wir fahren „rüsseln“. Und dann haben wir im Auto gesessen und sind umher gefahren, und haben in die Hintergärten der Leute geguckt. Was meinst du, was da alles rumstand. Was für die Leute wertlos war. Was dann einfach für einen Appel und n´n Ei abgekauft und wieder teuer verscherbelt wurde. Man hat wirklich auf den Schrottplatz oder als Hühnerzaunabsperrung alte Emailie-Schilder gefunden. Die waren einfach reingesteckt. Die Leute hat das einen Scheiß interessiert. Das wurde alles eingesammelt und dann wurde es wieder verscherbelt. So ein Schrank aus der Gründerzeit brachte 300 bis 500 Mark. Hat man für einen Zwanni oder Dreißig gekauft. Vertiko brachte 800 – 1.000 Mark. Das hast du auch für einen hunderter bekommen.“
Thomas Bautzer (IT WORKS! Medien GmbH 2008, 19:30ff)

Sammler und die Maker hingen trotz unterschiedlicher Geschäftsmodelle zusammen. Was die einen besorgten, restaurierten die anderen. Auch überschnitten sich in Teilen die Kundenkreise.

5. Grenzschmuggel

Der Ameisenhandel mit dem Westen verschärfte die Spannung zwischen Angebot und Nachfrage weiter. Treiber waren insbesondere Rentner und andere Gruppen, die über einen Zugang zu Westgeld verfügten bzw. in den Westen reisen konnten.

Die DDR begrenzte den Umtausch und regulierte die Wechselkurse. Der offizielle Kurs lag meist bei einer West-Mark gegen fünf bis sechs DDR-Mark. Auf den Schwarzmarkt bildeten sich Kurse von teilweise 1:10. Ein Zeichen, dass die offiziellen Kurse nicht die volkswirtschaftliche Realität widerspiegelten bzw. dass es große ökonomischen Ungleichgewichte gab. Eine Eindämmung war möglich, mehr aber nicht.

„Die Omas waren ja das Außenhandelsunternehmen der DDR.
Die sind dann immer mit den Taschen – bupp, bupp, bupp –
Dann ging Omi in den Laden: `Ja, ein paar Dr. Martens und noch das hier.`
Die im Westen wussten schon, dass es rüber ging in den Osten.“
Thomas Bautzer (IT WORKS! Medien GmbH 2008, 21:25ff)

Bei den Westreisen wurden regelrechte Bestellungen abgearbeitet. Es entstanden Strukturen, die die Grenze zum organisierten Schmuggel überschritten. Die Akteure finanzierten sich darüber einen Lebensstandard, der nicht ihrer realwirtschaftlichen Leistung entsprach.

„Von Chicago bis Rolling Stones alles dabei. Und meine Kunden – viele Jugendliche hauptsächlich aus Thüringen und Ostberlin – die haben das regelrecht bestellt. Nach diesem Katalog. Und ich habe es einfach nur besorgt.“
Jorg Heckmann (IT WORKS! Medien GmbH 2008, 22:30ff)

Neben den Transport von Bargeld und Waren erfüllten die Schmuggler noch drei andere Funktionen. Einerseits versorgten sie die Maker mit den Vorlagen für ihre Produkte. Viele der selbst produzierten Waren orientierte sich an westlichen Modetrends – inkl. Disney-Motiven für die T-Shirts.

Andererseits brachten sie seltene Materialien und Werkzeuge in der DDR mit, um die Produktion anzuschieben.

„Mein Freund der Joschka der hat dann einfach eine Rolle Silberdraht mitgebracht – von Karstadt. Die hat 2,99 DM gekostet. Und aus dieser Rolle haben wir einfach mal 2.000 Ost-Mark gemacht. Indem wir da ein paar bunte Perlen rangehangen haben und die auf Hiddensee selber hergestellt hatten. Du brauchtest ja nur eine Zange.“
Page Pijorr (IT WORKS! Medien GmbH 2008, 17:00)

Letzter Effekt war, dass sie wichtige Käufer bzw. Zwischenhändler für die Sammler sind. Sie kaufen entweder selbst oder stellen den Kontakt zu ausländischen Käufern her, die andere Summen zahlen können, als lokale Kundengruppen.

6. Soziale Schicht

Es bildete sich eine Grauzone von Hobbybastlern, (Lebens-)künstlern, Abenteurern, Gelegenheitsschmugglern, Schwarzarbeitern bis hin zu hochgradig kriminellen Strukturen. Der hier zitierte Dokumentarfilm konzentriert sich auf die freundlicheren Aspekte. Begriffe wie „organisierte Kriminalität“ fallen nicht. Fragen des Rechts sowie die Beteiligung geheimer (Staats-)Strukturen werden nur kurz angetippt.

In den 1980er Jahren war der ökonomische Druck der überschüssigen Nachfrage groß. Entsprechend sahen die Behörden je nach Umfang und Art der Aktivität sowie je nach politischer Wetterlage oft über die Strukturen hinweg. Aber sie waren immer informiert. Sie konnten die Strukturen jederzeit zerschlagen – und haben das auch immer wieder gemacht. Insbesondere wenn ungeschriebene Grenzen überschritten wurden – politische Aktivität, Schmuggel / Fabrikation illegaler Güter (Waffen, Drogen etc.), Diebstahl oder das Einlassen mit fremden Diensten.

7. Absorption der Kaufkraft

Politische Folge der beschriebenen Strukturen war eine ökonomische Spaltung in die, die über entsprechende Quellen bzw. Geschäftsideen verfügten und die, die kein zsätzliches Einkommen hatten. Für einen Staat, dessen politische Leitidee die Egalität der Menschen ist, stellten diese Unterschiede eine große politische Belastung dar.

Zumal die Schattenwirtschaft die Unterversorgung in anderen Bereichen verschärfte. Wenn beispielsweise aus einem Bettlacken mehrere T-Shirts wurden, wird der Plan für Bettwäsche völlig gesprengt. Der Verbrauch ging über ein normales Niveau hinaus. Zumal in Folge Haushalte Bettwäsche als Tauschobjekt horteten – die hohen Preise für modische T-Shirts zogen die für Bettwäsche nach oben. Gleichzeitig blieben die „offiziellen“ T-Shirts im Absatz zurück. Obwohl es eigentlich genug gab, stand eine Überproduktion einer Mangelversorgung gegenüber.

Die DDR reagierte darauf differenziert. Parallel zu ideologischen Abwehrstrategien, die auch mit erheblichen Ressourcen der Staatsgewalt untersetzt waren, entstanden Abschöpfungsstrategien. Luxuslinien wie Exquisit wurden gegründet, das Angebot in den Intershops ausgebaut (die meisten dort erhältlichen Produkte stammten aus der DDR, aber waren für den westlichen Markt optimiert), teure Hotelbars eröffneten … Dort war hochpreisiger Luxus erhältlich, teilweise nur gegen Westgeld. Diese neuen Konsumstrukturen wurden durchaus angenommen. Aber es führte auch zu einer dauerhaften Teilung des Konsumniveaus.

Ebenfalls entwickelten sich Teile der Macher-Szene zu Trägern einer selbstständigen Modeszene in der DDR. Ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre folgten auch öffentliche Auftritte in den Kulturhäusern der DDR. (Goebel 2019) Teile der Gewinne aus den halblegalen Handel flossen so in offizielle Strukturen. Innovative Modelabel wie „chic, charmant & dauerhaft“ und Allerleirauh entstanden. (Dörre 2009)

Ihre Bedeutung in der DDR war hoch. Es bleibt offen was sich noch daraus entwickelt hätte. Aber die Wirkung über die Wende hinaus blieb begrenzt. Letztlich waren die Künstler*innen eingebettet in eine DDR (Lebens-)Gemeinschaft. Als die ökonomischen Grundlagen wegfielen – der DDR-Sozialstaat, die Sonderstellung für nicht-mainstream Mode, die extra Profite aus dem Grenzverkehr … – zerfielen auch die (innovative) Netzwerke.

Literaturverzeichnis

Dörre, Stefanie (2009): Mode in der DDR. Von starken Frauen, selbstgenähten Kleidern und Modepunks. Hg. v. Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion.

Fritsche, Andreas (2008): Mehrwertsteuer gab es nicht. Film über DDR-Mangelwirtschaft und Schwarzmarkt-Schneider in Prenzlauer Berg. In: neues deutschland, 17.09.2008.

Goebel, Anne (2019): Mode im Osten. „Klar waren wir cool – obwohl wir das Wort nicht kannten“. In: Süddeutsche Zeitung, 09.11.2019.

IT WORKS! Medien GmbH (2008): Mit Fantasie gegen den Mangel. Leben im Schatten der Planwirtschaft. rbb, 2008.

Kleinwächter, Kai (2013): Schattenwirtschaft global. zeitgedanken.blog. Potsdam.

Kleinwächter, Kai (2022): Politische Steuerung des Handels mit der DDR. zeitgedanken.blog. Potsdam.

Worst, Anne (2011): DDR – Ostprodukte im Westregal. mdr, 2011.

Bild (Startbild): Wappen der DDR in der Friedrichstrasse Berlin. Von flickr. Autor: Marc Ben Fatma. Lizenz: Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

Creative Commons Lizenzvertrag Weitere Informationen zum Urheberrecht unter Kontakt/Impressum/Lizenz.
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