Die folgenden sechs Thesen sind er Beginn des Nachdenkens über Geld, Finanzmärkte, Preise und moderne staatliche Politik.
1. Definition
„Unter Inflation werden anhaltende Steigerungen des Preisniveaus [verstanden …]. Jene sind von Steigerungen der Einzelpreise zu unterscheiden, die zu den für eine Marktwirtschaft normalen Vorgängen zählen.“
Prof. Oliver Budzinski (et al. 2020)
In einem marktwirtschaftlichen System wechseln Preise permanent. Es gibt immer einige die gerade steigen, andere fallen und die meisten bleiben (relativ) konstant. (Siehe Abb. 1) Steigen oder sinken nur einzelne Produktpreise verändert sich das Gesamtniveau nicht wesentlich. Bewegen sich aber viele Preise in die gleiche Richtung kommt es zu strukturellen Veränderungen im Preisgefüge.
Um solche Entwicklungen festzustellen, verwendet die heutige Statistik einen sogenannten „Warenkorb“. Dieser besteht in Deutschland aus mehr als 650 Einzelpositionen und bildet den durchschnittlichen Konsum bestimmter Haushaltstypen innerhalb eines Jahres ab. (Böhl 2022) Erst wenn sich die Gesamtsumme des „vollen Einkaufswagen“ verändert, wird von Inflation (Preise steigen) oder Deflation (Preise sinken) gesprochen.
2. Neoklassische Begrenztheit
Die Entstehung von Inflation hat vielfältige Ursachen. Aber spätestens seit Mitte des 20. Jahrhundert bestimmen die einseitigen monetaristischen Erklärungen der Neoklassik die wirtschaftspolitischen Diskurse.
Im Gegensatz zu ihren Vorläufern sieht die Neoklassik „Geld“ nicht mehr als „Einheit qualitativer (gesellschaftlicher) und quantitativer (umlaufbezogener) Momente“ (Busch 2004, S. 139). Sie konzentriert sich ausschließlich auf die quantitativen Aspekte. Zwar bearbeiten die anderen Sozialwissenschaften gesellschaftspolitische Fragen zum Geldsystem, aber diesen fehlt das nötige ökonomische Verständnis. Ihre Analysen bleiben begrenzt.
„Der Paradigmenwechsel zur Neoklassik hatte schließlich zur Folge, dass sich die Theorie des Geldes auf quantitative Analysen des Geldumlaufs sowie auf Geldgeschichte und Numismatik beschränkt. Währenddessen wird die Geldpolitik als eine ungeheuer praktische, instrumentell sehr ausgefeilte und empirisch detailliert untersuchte, nichtsdestoweniger aber theoretisch wenig fundierte, Angelegenheit betrieben.“
Prof. Ulrich Busch (2004, S. 140)
Entsprechend ihrer Dogmen versucht die Neoklassik Geldsysteme und damit auch die Entstehung von Preisänderungen, über Leitzinsen, Wechselkursen und Schulden(höhe) zu erklären. Fragen der Verteilung von Vermögen und Löhnen, politische Entscheidungen, (massen-)psychologische Effekte oder strukturelle Umbrüche in den volkswirtschaftlichen Strukturen sind sekundär – wenn sie überhaupt betrachtet werden. Womit sich praktischerweise auch eine „weitere Erörterung [von Geld] als Ausdrucks- und Gestaltungsform gesellschaftlicher Verhältnisse erübrigt.“ (Bush 2004, S. 139)
3. Geld- und Warenfetischismus
„Kapitalistische Gesellschaften […] sind zugleich Arbeits- und Geldgesellschaften. […] Aber nicht alle haben die gleiche Menge Geld. Die Gesellschaft spaltet sich in die, die es haben, und die anderen die es nicht haben. Der Zwang, [für Geld seine Arbeitskraft zu verkaufen,] wird freilich als ´Sachzwang` wahrgenommen, so als ob er aus dem Geld und nicht aus der Ordnung einer kapitalistischen Gesellschaft erwachse. Wer sich mit Geld beschäftigt, kann zu falschem Bewusstsein, zu Krisen und gesellschaftlichen Konflikten nicht schweigen.“
Prof. Elmar Altvater (2012, S. 35)
Karl Marx hat diese Haltung der Neoklassik treffend als Waren- bzw. Geldfetischismus kritisiert. Im Kapitalismus sind die gesellschaftlichen Produktions- und Verteilungsverhältnisse sowie die darauf basierenden Herrschafts- bzw. Machtstrukturen verdeckt. Über sie legt sich ein „Geldschleier“. (bezahlen.de 2022) Oberflächlich betrachtet lässt sich Gesellschaft vollständig durch die Geldverhältnisse bzw. deren quantitativen Ausprägungen (Geldmenge, Umlaufgeschwindigkeit, Zinsniveau etc.) erklären.
Diese Haltung wird dadurch begünstigt, dass in marktwirtschaftlichen Systemen tendenziell jede Ware in Geld und Geld in jede beliebige Ware umgewandelt werden kann. Jede Ware lässt sich somit in Geld ausdrücken. (Altvater 2012, S. 36)
Vor allem für die Rentierschicht und den Finanzsektor wird das Geld zum Fetisch – zu einem Götzenbild, einen magisch ja schon heiligen Gegenstand, durch dessen Anbetung Wunder möglich werden. (Siehe auch goldenes Kalb)
„Es ist aber ebendiese fertige Form – die Geldform – der Warenwelt, welche den gesellschaftlichen Charakter der Privatarbeiten und daher die gesellschaftlichen Verhältnissen der Privatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie zu offenbaren. […] Wenn die Produzenten von Rock, Stiefel usw. diese Waren auf [… Gold und Silber …] als allgemeines Äquivalent beziehen, erscheint ihnen die Beziehung ihrer Privatarbeiten zu der gesellschaftlichen Gesamtarbeit genau in dieser Form.“
Karl Marx und Friedrich Engels (1968, S. 90)
4. Historischer Ursprung des Geldfetischismus
Dieser Geldfetischismus inklusive moralisch begründeter Sparzwang hat einen rationalen Kern. Max Weber bezeichnete diese Haltung als den „Geist des Kapitalismus“. Sie erschließt sich vor allem aus der Abgrenzung zum Feudalismus. In diesem investiert der Adel überschüssige Mittel aus seinen Renteneinkommen nicht, sondern verprasst sie für Luxus, Vergnügen, Kriege und Macht. Die winzige Mittelschicht strebt danach selbst Adelig zu werden. Sobald etwas Kapital vorhanden ist, kauft sie davon Agrarland zwecks Generierung von Renteneinkommen sowie politischer Macht. Im Ergebnis entsteht eine stagnierende, auf Renteneinkommen fixierte Gesellschaft.
Mit dem Frühkapitalismus bilden sich neuen sozialen Schichten: (Staats-)Bürgertum, Proletariat und Bourgeoisie heraus. Letztere streben nach Aneignung des kapitalistischen Mehrwertes in Form von Marktgewinne. Diese werden zwecks der weiteren Vermehrung immer wieder reinvestiert. Es entstehen dynamische Akkumulationsregime kapitalistischer Ausprägung. Um die Akkumulation aufrecht zu erhalten, muss stetig in die Erneuerung der Unternehmung investiert werden. Nur ein begrenzter Teil der erwirtschafteten Gewinne darf damit verkonsumiert werden.
„[…] die religiöse Wertung der rastlosen, stetigen, systematischen, weltlichen Berufsarbeit als schlechthin höchsten asketischen Mittels und zugleich sicherster und sichtbarster Bewährung des wiedergeborenen Menschen und seiner Glaubensechtheit musste ja der denkbar mächtigste Hebel der Expansion jener Lebensauffassung sein, die wir hier als „Geist“ des Kapitalismus bezeichnet haben. Und halten wir nun noch jene Einschnürung der Konsumtion mit der Entfesselung des Erwerbsstrebens zusammen, so ist das äußere Ergebnis naheliegend: Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang. Die Hemmungen, welche dem konsumtiven Verbrauch des Erworbenen entgegenstanden, mussten ja seiner produktiven Verwendung: als Anlagekapital zugute kommen.“
Max Weber (1905, 101f)
Die Ideologie für diesen Konsumverzicht liefern die protestantischen Glaubensströmungen. Sie predigen eine Abkehr von Sünde und Prunk. Sie verherrlichen die kontinuierliche (Selbst-)Ausbeutung durch Arbeit. Damit einher geht eine partielle Abwendung vom Adel. Die Bourgeoisie strebt nicht die Herrschaft in einem feudalen Erbsystem, sondern in einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft an.
Eine der größten Herausforderungen zur Ausbildung kapitalistischer Gesellschaften war der Mangel an marktwirtschaftlichen Kapital. Gesellschaften, die mehr davon hatten, entwickelten sich schneller. Bei ähnlichen Institutionen konnten unterschiedlich leistungsstarke Geldsysteme die volkswirtschaftlichen Unterschiede durchaus erklären. Die Fixierung auf Geld und Geldsysteme hat hier einen ihrer Ursprünge.
Wobei schon Weber die Unterschiedlichkeit der Geldsysteme mit der Orientierung der Bourgeoisie begründete. Blieb diese sich nach ihrem Aufstieg treu und akkumulierte weiter oder wandelte sie sich in einen auf Renteneinkommen fixierten Geldadel. Dann wurden wieder wachsende Teile des Einkommens verkonsumiert – das verfügbare Investitionskapital schrumpft und mit ihn die volkswirtschaftliche Dynamik. Weber macht darin den Unterschied vom aufstrebenden Holland und dem stagnieren England fest. (Weber 1905, S. 102f)
5. Politische Konsequenz: Neoliberale Politik
Die neoliberalen Geister haben nicht nur ein einseitiges Weltbild. Einseitig sind auch ihre wirtschaftspolitischen Forderungen inklusive der Instrumente zur Beeinflussung der Preisentwicklung. Stur wird als Allheilmittel Sparen und Verzicht auf (Staats-)Schulden sowie Veränderungen der Leitzinsen gefordert. Funktionierende alternative Instrumente wie das 9€-Ticket (Kleinwächter 2022) oder Preisregulierungen im Energiemarkt werden als Irrwege bekämpft. Ob die neoliberalen Dogmen aber überhaupt zum Ziel führen oder was die volkswirtschaftlichen Konsequenzen sind, wird nicht hinterfragt. Man hält an den Gewissheiten des 19. Jahrhunderts fest.
„Die höheren Zinsen führen zu allem, nur nicht dazu, jene Gas- und Stromteuerung gezielt zu bremsen, die neben etlichen Nachwirkungen der Corona-Lockdowns für den ganz großen Teil der Inflation verantwortlich ist. Im Zweifel amüsiert es Putin, wie blind im Westen jetzt auch noch die Konjunktur geschwächt wird – wo er unsere Gaspreise mit ein paar Andeutungen […] jederzeit wieder auf neue Rekorde hochschießen lassen kann. Also auch die Inflation. Da macht der Leitzins wenig.“
Thomas Fricke (2002)
Erst seit der Weltwirtschaftskrise von 2009 findet ein partielles Umdenken statt. So wird zum Beispiel in neo-keynesianischen Strömungen der Zusammenhang von Ungleichheit der Einkommensverteilung und (zurückgehendes) Wirtschaftswachstum kritisch diskutiert. (Fratzscher 2022) Aber die konservative Fraktion, die das Geldsystem in „sozialer Hinsicht […] als »neutral« ansieht“ (Bush 2004, S. 139) überwiegt.
6. Geldfetischismus ist nicht nur neo-liberal
Bei der Kritik an der neo-liberalen Beschränktheit gilt es darauf zu achten, nicht selbst ein Geldfetischist zu werden. Also bei der Analyse des Geldsystems, von Preisänderungen, der Politik der Zentralbanken etc., hinter den Schleier des Geldes zu blicken. Vielen Kritikern des Kapitalismus – rechten als auch linken – gelingt das nicht. (Ein Überblick über seriöse alternative Geldtheorien findet sich bei Busch 2004)
„Kapitalismuskritik äußert sich daher zuerst als Geldkritik, als Kritik an der Geldwirtschaft und gegenüber deren Exponenten, den Geldbesitzern, Geldverleihern, Bankiers und Spekulanten – den Juden. Dies geht mitunter soweit, dass diese mit dem »Kapital« gleichgesetzt werden und der Grund von Ausbeutung nicht in der kapitalistischen Produktion und Akkumulation gesehen wird, sondern im Geldkapital, namentlich in der Geldleihe, im Zins.“
Prof. Ulrich Busch (2016, S. 76)
Die Kritiker bleiben wie die Neoklassiker in einer zahlenlastigen Aufzählung von Geldbeständen, Zinsen und Schulden stecken. Oft wird die Dominanz des Geldes in der Gesellschaft, der falsche Konsum bzw. falsche Umgang mit Geld oder auch die Macht der Wall-Street für alles verantwortlich gemacht. Eine gesellschaftliche Utopie entsteht daraus nicht. Im Gegenteil, die Rezepte führen meist in eine ähnliche Massenarmut wie der Neoliberalismus.
Literaturverzeichnis
Altvater, Elmar (2012): Marx neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die Kritik der Politischen Ökonomie. Hamburg: VSA-Verl.
bezahlen.de (Hg.) (2022): Geldschleier; Paysol GmbH & Co. KG. Dresden.
Böhl, Lukas (2022): Warenkorb zur Berechnung der Inflation. In: Stuttgarter Nachrichten. Stuttgart.
Budzinski, Oliver; Jasper, Jög; Michler, Albrecht (2020): Inflation. In: Springer Gabler (Hg.): Gabler Wirtschaftslexikon. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH.
Busch, Ulrich (2004): Alternative Geldtheorien und linker Geldfetischismus. In: Utopie kreativ (160), S. 137–149.
Busch, Ulrich (2016): Die Welt des Geldes. Zehn Essays zur monetären Ökonomie. Potsdam: WeltTrends (Potsdamer Textbücher, Band 29).
Fratzscher, Marcel (2022): Die soziale Spaltung eskaliert. In: zeit, 30.09.2022. Online verfügbar unter .
Fricke, Thomas (2022): Hier werden nur Symptome kuriert. Das ist fahrlässig! In: spiegel.de, 09.09.2022.
Kleinwächter, Kai (2022): 9€-Ticket. Einstieg in den kostenlosen ÖPNV. zeitgedanken.blog. Potsdam.
Marx, Karl; Engels, Engels (1968): Erstes Kapitel. Die Ware. 4. Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis. 3 Bände. Dietz: Berlin (Das Kapital, 1).
Weber, Max (1905): Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).
Kunstwerk des Eintrages
Henri-Paul Motte (1846-1922) – Der Tanz der Israeliten um das Goldene Kalb (1899)
Ursprung Datei: wikimedia.org. Lizenz: Gemeinfrei.

„Schnell sind sie von dem Weg abgewichen, den ich ihnen vorgeschrieben habe. Sie haben sich ein Kalb aus Metall gegossen und werfen sich vor ihm zu Boden. Sie bringen Schlachtopfer dar und sagen: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben.“
Bibel Ex 32,8
„Der Kult um ein goldenes Kalb oder eine Stierfigur ist eventuell zu deuten als Verehrung einheimischer Fruchtbarkeitssymbole. In jedem Falle aber war dies in den Augen der Jahwe treuen Israeliten, insbesondere im Sinne von Moses, ein Götzendienst und Abfall vom wahren Gottesglauben.
Wenn die Niederwerfung vor dem Kalb, dessen Huldigung und Verehrung sowie die Abhaltung von Brandopfern, als ein Tanz bezeichnet wird, so entspricht dies eher einer den Kultvorgang ausschmückenden Phantasie. Von einem wörtlichen Herumtanzen um das Kalb ist in der Bibel nie die Rede.“ (LOGO – Christlicher Buchversand (2022): Christliches Lexikon. Eintrag Um das goldene Kalb tanzen.)