Militante Verantwortungslosigkeit

Die Nordatlantische Bündnisorganisation leidet im 70. Jahr ihres Bestehens in einer anhaltenden Sinnkrise. Die jahrzehntelang eingebildete „Bedrohungsmacht“ Sowjetunion ging durch Selbstmord verloren. Der Präsident der Führungsmacht USA Trump charakterisierte die NATO als „obsolet“, Frankreichs Macron, in der selbstbewussten Tradition de Gaulles, sieht ihren „Hirntod“. Militäreinsätze sind seit über zwei Jahrzehnten nur noch im beschränkten Rahmen von „Willigen“ realisierbar. Trotz der Beschwörung auf dem jüngsten Gipfel wird die militärische Beistandsklausel wechselseitig misstrauisch bezweifelt.

Angesichts der Fragilität artikulierte die Europäische Union schon in ihrer „Lissabon-Strategie“ (2000) den Anspruch auf Weltmacht, sehen die strategischen Think Tanks eine „Neue Macht – Neue Verantwortung“ (2013) und empfehlen in einer multipolaren Welt die „Strategische Autonomie Europas“ (2019).

Deutschland ist sicherheitspolitisch jedoch nicht auf der Höhe der Zeit. In den Führungskreisen vollziehen sich Auseinandersetzungen über die Grundorientierung. Eine (scheinbar) dominante pro-atlantische Phalanx versucht Deutschland „Trotz alledem: Amerika“ (2017), erneut in die Rolle eines „Protektorates“, in die „Vasallenrolle“ unter Vormacht der USA (Brzezinski) zu drängen. Diesen Geist repräsentiert auch die Grundsatzrede von Kramp-Karrenbauer an der Universität der Bundeswehr München (7.11.19).

Gebetsmühlenartig und bar einer realistischen Bedrohungsanalyse problematisiert die Verteidigungsministerin „die russische Aggression“ mit Bezug auf die Ukraine und die Krim, die „weltumspannenden Netzwerke des Terrorismus“ und den „machtpolitischen Aufstieg Chinas, der mit einem Herrschaftsanspruch einhergeht“. Nach einem oberflächlichen Rundumschlag, meinte sie „ich könnte diese vielfältigen Herausforderungen noch detailliert ausbreiten und tief analysieren“, was aufgrund ihrer Vita mehr als zweifelhaft ist.

Mehrfach anknüpfend an die martialische Rede von Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 und das Weißbuch 2016, kritisiert sie: Deutschland mit seinen „globalen Interessen“, kann „nicht einfach nur abwarten, ob andere handeln, und dann mehr oder weniger entschlossen mittun, oder auch nicht.“ Das gipfelt dann in Forderungen nach „Übernahme von mehr Verantwortung“, „unsere Kultur der Zurückhaltung“ aufzugeben und die „Rolle der Gestaltungsmacht“ anzunehmen.

Die Komplexität von Sicherheitspolitik wird von Kramp-Karrenbauer vorrangig eindimensional militärisch verstanden. Ihre pseudowichtigen Forderungen, dass Deutschland als „global vernetzte Handelsnation“ zu seinen „strategischen Interessen eine Haltung entwickeln muss“, sind schon seit vielen Jahrzehnten praktizierte Außenwirtschaft. Der Umfang der Ex-/Importe 2018 von jeweils über 1.000 Milliarden Euro, inklusive eines Exportüberschusses von fast 230 Milliarden Euro, dokumentieren das. Die Handelspartner sind kooperativ, die Handelswege offen. Dafür war und ist eine weltweit agierende Bundeswehr weder in Afghanistan , Syrien und Irak noch in den Tiefen Afrikas notwendig oder nutzbringend – absurd jedoch im Indo-Pazifischen-Raum zur Eindämmung Chinas.

„Welche Hybris ist das? … das ist der falsche Weg.“ – so Mützenich in der Generaldebatte des Bundestages (21.11.19). Die EU braucht eine Verteidigungspolitik mit dem „deutsch-französische Tandem“. Der Präsident Frankreichs Macron sieht allerdings weder in Russland noch in China Gegner der NATO (28.11.19). Das von Kramp-Karrenbauer propagierte militärpolitische „E3-Format“ aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien soll offenbar zur angloamerikanischen Einbindung der EU-Kernstaaten sowie zur militärpolitischen Kompensation des Brexit-Dilemmas beitragen.

Des Weiteren erschöpfte sich die Rede in bereits früher dargelegten Allgemeinplätzen zur 2-Prozent-Problematik bis 2031, einem erweiterten Sicherheitsrat und in Anbiederungsritualen an die Bundeswehr.

Jüngere Überlegungen von Kramp-Karrenbauer zur Einführung einer „Dienstpflicht“ zur militärischen Erziehung der nachfolgenden Generationen sind verfassungswidrig und indiskutabel. An die Kanzlerin gewandt brachte es Mützenich auf den Punkt: „Ihr Verantwortungsprinzip erschöpft sich viel zu stark im Militärischen.“ (27.11.19) Die Sicherheit Deutschlands wird z. Zt. durch eine militante Verantwortungslosigkeit pro-atlantischer Kräfte in der Bundesregierung ausgehöhlt. Übrigens: Man kann auch Mitleid mit einer Armee haben, die dilettierende Verteidigungsminister*Innen in Folge hat.

Der Kommentar erschien 2020 zuerst in WeltTrends – Das außenpolitische Journal Nr. 159 Unter Kontrolle? Militär & Politik. Sie ist auch als PDF verfügbar.

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