Ein Kommentar zum Artikel von Prof. Günther Maihold (SWP) und Dr. Melanie Müller in WeltTrends Nr. 184.
Die außenpolitische Positionierung der EU wird in einer lesenswerten Analyse der SWP (Kaim und Kempin 2022) als „Weihnachtsbaum-Strategie“ bezeichnet – jeder darf seinen Wunsch unter den Baum legen und der Weihnachtsmann wird es unabhängig von Zielkonflikten, mangelnden Ressourcen, nicht-konkretisierten Vorgaben sowie fehlendem politischen Willen bei unklarer Verantwortung und überforderten Institutionen erfüllen. Die politischen Kreise der EU sind bisher immun gegen eine solche Kritik.
Angesichts des Ukrainekrieges erfolgte sogar eine nochmalige Verschärfung des „Strategischen Kompass“ in Richtung der militärischen Logik. Alle Bedenken wurden beiseitegeschoben: „Geeinter denn je (…) zeigen wir eine beispielslose Entschlossenheit, gemeinsam mit unseren Partnern (…) mehr Verantwortung für die Sicherheit Europas und den Weltfrieden, die internationale Sicherheit sowie die menschliche Sicherheit“ (Rat der Europäischen Union 2022) zu übernehmen. Wie ein ebensolcher Ansatz liest sich die SWP-Studie „Deutsche Außenpolitik im Wandel“ (Maihold et al. 2021) und der darauf basierende WeltTrends-Artikel (WT-Nr. 184) von Günther Maihold und Melanie Müller .

Problematisch ist jedoch: Wie der „Strategische Kompass“ artikuliert auch diese Publikation eine weitgehende Entgrenzung der deutschen Außenpolitik – in Raum und Zeit sowie inhaltlich und instrumentell. Diese Ausdehnung birgt das konzeptionelle Risiko einer „strategischen Überdehnung“ in sich.
Raum: Es existieren kein Großraum und keine größere Region ohne deutsche Interessen bzw. Positionierung und Machtprojektion. Entsprechend braucht es auch in allen Regionen befreundete Partnerstaaten. Die Arktis, der nordatlantische Raum sowie Nordamerika werden im Artikel nicht erwähnt, aber in der SWP-Studie mit eigenen Kapiteln als wichtig klassifiziert.
Zeit: In beiden Konzeptpapieren wird kein Versuch unternommen, Entscheidungen an überschaubare zeitliche Horizonte zu binden. Engagements sind potentiell ewige Verpflichtungen. Dazu Maihold und Müller: „Außenpolitisches Handeln sollte dafür längerfristige Planungshorizonte mit einbeziehen“. Es gilt, Zielhorizonte, Entwicklungspfade und „das Instrumentarium neu zu justieren, das sich oftmals nicht mehr als krisenadäquat darstellt, wie am unrühmliches Ende des (20-jährigen) Afghanistan-Einsatzes erkennbar“.
Inhalt: Es gibt eigentlich kein Thema, dass nicht Gegenstand der deutschen Außenpolitik sein könnte. Völlig entgrenzend sind die vorgeschlagenen Metathemen, die eine Unendlichkeit weiterer Themen einschließen. Highlight: weltweite „Sicherung öffentlicher Güter“. Im Text folgen als Beispiele Gesundheitspolitik und nachhaltige Lieferketten. So lässt sich ein Engagement in jedem Politikfeld und global auch in jedem Raum begründen. Die Diskussion, in Brasilien einzumarschieren, um den Regenwald zu schützen, lässt grüßen.
Instrumente: In den Papieren erfolgt keine Eingrenzung der Instrumente. Ob bilateral mit relevanten Partnern, ob multilateral in jeder bekannten Organisation oder mit neuen „Multiakteurs-Plattformen und Multi-Stakeholder-Arrangements“ – Deutschland ist dabei. Auch sollten Umwelt-, Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe sowie Beistand bei gesellschaftlicher Transformation und Demokratisierung geleistet werden können. Und natürlich wären „im globalen Wettbewerb um Macht und Einfluss“ die Fähigkeit zu Auslandseinsätzen gegen autoritäre Staaten sowie militärisch bzw. „(atomare) Partnerschaften“ mit den USA oder Frankreich als Instrument zu klären.
Konzentration vs. Entgrenzung
Die Autoren propagieren nicht nur eine unrealistische Entgrenzung, sondern kritisieren Ansätze der Fokussierung, explizit die „Strategie 2030“ des BMZ. Kernstück dieser Strategie ist räumliche und inhaltliche Konzentration auf 65 Partnerländer und einige relevante Themenfelder in der Entwicklungshilfe. Dadurch soll eine bessere Steuerungsfähigkeit gewährleistet werden. Allgemeine Aufgaben, zum Beispiel die Hungerhilfe, sollen künftig internationale Organisationen bearbeiten.
Diese Strategie ist sicher kritisch zu überarbeiten. Unter anderem findet sich Russland nicht in der Liste und neben China und Indien ist auch Peru ein „globaler Partner“. Sind nicht auch 65 privilegierte Partner in der Entwicklungshilfe noch zu viel? Maihold und Müller dazu: Durch das Reformkonzept BMZ 2030 würden „lange bestehende Kooperationspfade abgebrochen und Verunsicherung erzeugt.“
Nur am Rande des Artikels in WeltTrends werden mögliche Grenzen des deutschen Engagements erwähnt. Es ist vor allem die beschränkte Bereitschaft zur globalen „Solidarität der Bevölkerung und (bestimmter) politischen Kreise“. Dass diese Bevölkerung (…) die Außenpolitik finanzieren muss; (… ) die ökonomisch-sozialen Lasten des endgrenzten Engagements trägt; (…) das (militärische) Engagement mit ihren Opfern bezahlt; (…) unter den importierten politischen Konflikten leidet (…) wird nicht diskutiert.
Die verkürzte Argumentation lautet: Deutschland muss eine prominente globale Rolle spielen. USA, China, Indien, Russland (…) das ist unsere Ebene – wenn wir „Macht und Moral“ in Einklang bringen und wenn eine „rein moderierende Rolle zu Gestaltung unzureichend wird“, um „bestehenden und aufkommenden Machtstrukturen entgegenzutreten“. Zurückhaltung ob der eigenen Bedeutung, nachdenkliches Abwägen, was überhaupt änderbar ist, und Demut vor Raum, Ressourcen, Historie und Kultur anderer Kontinente – Fehlanzeige.
Konsequenterweise werden die massiven Niederlagen und Fehlentwicklungen der letzten Jahre nicht erwähnt. Beispiele nur aus dem Umfeld der EU vor dem Ukrainekrieg: zentrifugale Kräfte (Brexit, Scheitern der Asyl-/Migrationspolitik, fundamentale Konflikte mit Polen und Ungarn, Zuspitzung der sozialen Frage, ökonomisches Auseinanderdriften); anhaltende Krisen, inkl. zerbrechende Staatlichkeit und ökonomischer Kollaps von Osteuropa über den Balkan und Nordafrika bis nach Marokko; beginnender Kollaps (lokaler) Ökosysteme in Europa und im Mittelmeerraum.
Auch im Inneren Deutschlands stehen Aufgaben an – der Aufbau einer nachhaltigen sozio-ökologischen Gesellschaft; Erneuerung des demokratischen Systems; Modernisierung der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssysteme; Erhalt der wirtschaftlichen Leistungskraft und eine Verbesserung der Lebensqualität – nicht zuletzt die Entwicklung eines EU-Gesellschaftssystems des 21. Jahrhunderts. Haben angesichts dieser bedeutenden inneren und europäischen Herausforderungen die im Artikel genannten globalen Probleme überhaupt Priorität bzw. hat Deutschland die Kraft, hier substanzielle Beiträge zu leisten?
So zeigen sich im Ukrainekrieg deutliche Grenzen des deutschen Einflusses. Jenseits einer überraschten Politik, äußerer Militarisierung, konzeptloser Selbstverkrüpplung durch diverse Sanktionen und Waffenlieferungen auf Zuruf hat Deutschland kaum etwas zu bieten. Weder den osteuropäischen EU-Staaten, noch Russland und schon gar nicht den USA kann eine realistische Strategie entgegengesetzt werden.
Deutschland müsste eigentlich in den nächsten Jahrzehnten wesentliche Ressourcen darauf konzentrieren, die innerer Reform- und Veränderungsprozesse zu unterstützen. Damit erhält die „entgrenzte Außenpolitik“ eine neue Bedeutung. Die mit ihr einhergehende Verschwendung ökonomischer Ressourcen und politscher Kraft verzögert bzw. verhindert nicht gewollte innere Reformprozesse. So erfolgt im Zuge des Ukrainekrieges eine Aufrüstung Deutschlands sowie infolge planloser Entkopplungsstrategien eine umfassende Schwächung der deutschen Wirtschaft. Gleichzeitig verschob die Regierung u.a. die Reduktion der CO2-Ziele, den Kohleausstieg und die Agrarwende auf irgendwann. Die Absage an eine soziale Gesellschaft wird wohl folgen. Konservativ-atlantische Kräfte loben den neuen „Realitätssinn“. (German-Freign-policy.com 2022)
Realistische Beschränkung wagen
Die BMZ-Strategie entstand aus der Einschätzung, dass Deutschland nicht die halbe Welt mit Entwicklungshilfe beglücken kann. Ursprünglich waren 95 von weltweit 190 Staaten Entwicklungspartner Deutschlands. Eine radikalere Kürzung wurde diskutiert – aber besorgte Stimmen aus der außenpolitischen Community fürchteten um den Ruf und den Einfluss Deutschlands. Die SWP sollten eher dem beschränkenden (BMZ-)Ansatz folgen und sich unmittelbarer auf die Realisierung deutscher Interessen konzentrieren, bezüglich der eigenen Entwicklung, der EU und ihrer Nachbarregionen sowie vielleicht ein paar konsequent ausgewählter Schwerpunktländer in geographischer Nähe.
Dabei ist eingangs nüchtern zu analysieren, welche Ressourcen und finanziellen Mittel, Unterstützung der Bevölkerung, Leistungsfähigkeit der Apparate und welches Zeitbudget des Spitzenpersonals überhaupt zur Verfügung stehen. Beim Abgleich mit diesen Faktoren werden die meisten Träume verblühen – oder waren es sowieso nur Wünsche unterm Weihnachtsbaum, damit sich alle gut fühlen?!
Der Kommentar erschien 2022 zuerst in WeltTrends – Das außenpolitische Journal Nr. 188 „Ukrainekreig und globale Spaltung“. Er ist auch als PDF verfügbar.
Literaturverzeichnis
German-Freign-policy.com (Hg.) (2022): Der Krieg und das Klima.
Kaim, Markus; Kempin, Ronja (2022): Kompass oder Windspiel? In: SWP-Aktuell (1).
Maihold, Günther; Mair, Stefan; Müller, Melanie; Vorrath, Judith; Wagner, Christian; Stiftung Wissenschaft und Politik (Hg.) (2021): Deutsche Außenpolitik im Wandel. Berlin: German Institute for International and Security Affairs. DOI: 10.18449/2021S15
Maihold, Günther; Müller, Melanie: Deutschland braucht eine Neuaufstellung seiner Außenpolitik. In: WeltTrends (184), S. 42–48.
Rat der Europäischen Union (2022): Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung. 7371/22. Brüssel, 21.03.2022.
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2 Gedanken zu “Deutsche Außenpolitik als „Weihnachtsbaum-Strategie“?”