Wenn Kriege sich dem Ende neigen, schlägt die Stunde der Hyper-Propaganda. Insbesondere die Verlierer suchen Rechtfertigungen, um das eigene Versagen zu vertuschen.
Im Westen sind drei sich ergänzende Propaganda-Narrative für die Endphase des Afghanistan-Krieges prominent.
1. Der Vormarsch der Taliban war nicht vorhersehbar.
2. Das afghanische Volk lehnt eine Herrschaft der Taliban ab.
3. Die politische Führung war korrupt und nicht kampfeswillig.
Das gezeichnete Bild: Eine große, bestens organisierte und vom Westen ausgestatte Armee verliert gegen eine kleine, ungenügend bewaffnete und lokal agierende Miliz. Das kann doch nur möglich sein, weil die afghanische Armee verraten wurde. Die „Dolchstoßlegende“ lässt grüßen. Letzter „Beweis“: Präsident Ashraf Ghani ging am 15. August 2021 ins Exil und übergab die Hauptstadt kampflos.
Diese Propaganda basiert auf einem realitätsfernen und letztlich neokolonialen Denken. Bis heute findet bei vielen Akteuren keine Auseinandersetzung mit afghanischen Realitäten statt. Damit gehen umfassende Fehleinschätzungen, insbesondere der militärischen Kräfteverhältnisse, einher.
Personal der afghanischen Streitkräfte
Offiziell umfassten die Regierungstruppen ca. 300.000 Soldaten. Ein Großteil jedoch waren „Geistersoldaten“. Sie existierten nur auf dem Papier. Der ehemalige afghanische Finanzminister Khalid Payenda geht für die letzten Jahre von nur 40.000 bis 50.000 verfügbaren Soldaten und Polizisten aus. Interessant ist hier die Feststellung des US Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (Sigar) vom April 2017:
„Neither the United States nor its Afghan allies know
how many Afghan soldiers and police actually exist,
how many are in fact available for duty,
or, by extension, the true nature of their operational capabilities.“
SIGAR (April 2017)
Die Ausrüstung der Geistersoldaten und ihr Sold verschwand. Vieles floss wohl an andere Kriegsakteure, die Milizen der Warlords oder die Taliban. Der Abschluss-Bericht des SIGAR „Lessons from twenty years of Afghanistan Reconstruction“ beziffert die verschwundenen Gelder auf mehr als 300 Mio. US-$ pro Jahr (vgl. S. 51). Das entspricht zwischen 1,5 und 2 Prozent der Wirtschaftskraft Afghanistans. Über die Jahre geschätzt sechs Mrd. US-$ – eine beeindruckende Summe.
Der Abfluss betraf dabei nicht nur Bargeld sondern auch alle Formen von Ausrüstung. Weder die afghanische Armee noch deren westliche Partner wussten wirklich wo, wieviel, an welchen Geräten, Waffen oder Munition (noch) vorhanden war. Eine effektive Verwaltung der militärischen Güter existierte nicht. Und vieles verschwand nach der Lieferung einfach.
Hier nur von einigen korrupten Offiziere zu reden, ist ein Euphemismus sondergleichen. Zumal die gleichen gravierenden Probleme auch in den anderen Interventions-Kriegen vorkommen – beispielsweise dem Irak; Mali oder Syrien. Diese Geisterregimenter deuten auf strukturelle Probleme der NATO-Akteure im Zusammenspiel mit den örtlichen Eliten hin.
Eine entscheidende Ursachen war die von der NATO gewollte Abhängigkeit des afghanischen Militärs von privaten, westlichen Sicherheits- und Lieferfirmen. Die entsprechend Kontrakte wurden von der Regierung geschlossen. Eine überbordende Bürokratie verteilte dann die Ressourcen auf das afghanische Militär. Beziehungen und Korruption entschieden wer was bekam – nicht realer Bedarf. Eine transparente Statistik „hatte entsprechend keine Priorität.“ (SIGAR 2022, S.13)
„“We built that army to run on contractor support.
Without it, it can’t function. Game over…
When the contractors pulled out, it was like we pulled all the sticks out of the Jenga pile
and expected it to stay up.“
General a.d. David Barno (SIGAR 2022, S. 13 )
Wenn schon einfachste Statistiken so fernab jeder Realität liegen, was ist dann von dem weiterführenden Zahlenwerk über die vielen militärischen Erfolge zu halten? Wenn in etlichen afghanischen Distrikten 50-70 Prozent der Soldaten nur Papierkameraden sind – hat sich dann die Armee nicht schon längst aufgelöst?
Militärische Überlegenheit der Taliban
Angesichts der heute vorliegenden Daten war die afghanische Armee den Taliban zahlenmäßig weit unterlegen. Deren Kampfkraft schätzte das European Asylum Support Office schon 2017 auf mehr als 60.000 Vollzeitkämpfern und weiteren 90.000 – 150.000 „Teilzeitkämpfern“ aus den Stammesmilizen (vgl. S. 22).
Dieses Missverhältnis setzt sich bei der Qualität der Ausrüstung, dem Organisationsgrad und der Opferbereitschaft fort. Die reorganisierten Taliban sind eine hochprofessionelle und politisch zuverlässige Guerilla-Armee. Sie verfügen über ein breites Arsenal an modernsten Waffensystemen einschließlich (panzerbrechenden) Raketen- und Granatwerfern. Ihre weitgehend motorisierten Truppen können landesweit koordinierte Operationen durchführen. Insbesondere ihre auf mehrere tausend Mann geschätzten Spezialtruppen wie die „Badri 313“ besitzen eine Kampfkraft vergleichbar westlichen Spezialkommandos.
„Wir haben seit Mitte der 2000er Jahre
eine bemerkenswerte Professionalisierung der Taliban erlebt. […]
Der Krieg, den sie führen, ist überhaupt nicht derselbe wie der,
den ihre Eltern gegen die Russen geführt haben […]
Sie haben vor Ort gelernt und sind technisch sehr gut.“
Gilles Dorronsoro (Professor Panthéon-Sorbonne University)
Die afghanische Armee hingegen konnte in den letzten Monaten ihre Soldaten nicht mehr ausreichend ernähren, zahlte unregelmäßig Sold und litt unter mangelhafter Ausrüstung. Natürlich gab es afghanische Elitetruppen[1], die bis zuletzt als äußerst schlagkräftig galten. Aber sie waren in der Endphase bedeutungslos geworden. Die Mehrheit der Bevölkerung akzeptierte eine erwartbare Herrschaft der Taliban.
Kampflose Aufgabe Kabuls
„If left unchecked, countless patriots would be martyred
and the city of Kabul would be devastated,
resulting in a major humanitarian catastrophe in the six-million-strong city.
[…] The Taliban had made it clear that they were ready to carry out a bloody attack
on all of Kabul and the people of Kabul Sharif to oust me.
In order to prevent a flood of bloodshed, I decided to leave.“
Ashraf Ghani (Facebook Post 15.08.2021)
Ex-Präsident Ghani kannte das reale Kräfteverhältnis. Seinen Rückzug bereitete er vor – wahrscheinlich schon über mehrere Jahre. Eine realistische These, die von Vielen u.a. auch dem ehemaligen Außenminister Afghanistans Rangin Spanta (Heckmann 2022) vertreten wird.
Das Schicksal von Mohammed Nadschibullāh (Präsident von 1987-1992) dürfte Ghani dabei eine Warnung gewesen sein. Er war nicht bereit, einen sinnlosen Heldentod zu sterben. Aber das war es wohl, was westliche Medien von ihm erwarteten. Sein Rückzug wurde entsprechend propagandistisch geschmäht. Insbesondere wurde ihm unterstellt, dass er mehr als 150 Mio. US-$ in bar mitnahm. Nur eine von vielen Geschichten die jetzt revidiert werden.
Spiegel, Zeit und Bild überboten sich damals, an Szenarien blutigster Kämpfe um Kabul. Natürlich nicht ohne neu organisierte Milizen aus Zivilisten, als letzte Verteidigungslinie auszuloben. Die Bilder der notdürftig bewaffneten Frauen, halben Kindern und alten Männern erinnern an den Volkssturm von 1945 in Berlin. Aber es sind wohl nur wenige Völker ihren Führern so blind ergeben wie damals die Deutschen.
Die Afghanen entschieden sich für Verhandlungen und Übergabe. Ghani rettete mit seinem Rückzug Abertausenden das Leben. Das als letztlich humanitäre Tat anzuerkennen ist wichtig. Das Volk wollte ein Ende des Krieges. Und angeblich wurde ja für die Menschenrechte 20 Jahre lang Krieg geführt.
Fußnote
[1] Interessanterweise flogen die Briten mehrere tausend Soldaten der afghanischen Armee noch vor dem Fall Kabuls aus. Ziel ist der Aufbau eines afghanisches Regiments (Heilig 2021) – wie in den Kolonialzeiten die Gurkha-Regimenter. Gleiches taten die USA mit ihren afghanischen Soldaten. Insbesondere Spezialisten wie Kampfpiloten wurden mit ihren Angehörigen ausgeflogen. Ihre Maschinen und Waffensysteme brachte man in die USA oder zerstörte sie. Zurück blieben die angestellten Zivilisten – um die sich bis heute nicht gekümmert wird. Aber nicht alle Soldaten nahmen das Angebot an. Viele dienen jetzt den Taliban – teilweise noch mit den westlichen Waffensystemen. (Yasini und Natarajan 2022)
Literaturverzeichnis
BBC (2021): Afghanistan’s ghost soldiers undermined fight against Taliban. Interview with Khalid Payenda. London.
Cordesman, Anthony (2017): Afghan Desertions in the U.S.: Assessing the Desertion and „Ghost Soldier“ Problem in Afghan National Security Forces. Center for Strategic & International Studis (CSIS). Washington.
EASO (Hg.) (2017): Country of Origin Information Report – Afghanistan – Security Situation Dezember 2017. Übersetzung von Kristina Prästler und Jonas Erkan. Pro Asyl.
Heckmann, Dirk-Oliver (2022): „Das ist insgesamt eine Hölle, insbesondere für Frauen“. Interview mit Rangin Spanta. Deutschlandradio. Köln.
Heilig, René (2021): London baut „Afghanistan-Regiment“ auf. In: neues deutschland, 15.09.2021 (215), S. 5.
Javaid, Arfa (2021): Explained: Who are the Ghost Soldiers in Afghanistan Forces?.
Knipp, Kersten (2014): Der Irak und seine Geisterarmee. Deutsche Welle. Bonn. Online verfügbar unter .
Neshito, Timofey (2021): »Leute, entspannt euch, lasst uns in unsere Botschaftssauna gehen«. Interview mit Dmitrij Schirnow (russischer Botschafter in Kabul). In: spiegel, 21.08.2021.
Pany, Thomas: „Mehr Geld als kolumbianische Drug-Lords„. Telepolis.
Pany, Thomas (2015): Irak: US-Militärberater unter IS-Beschuss. Telepolis.
Schmidt, Michael (2021): „Badri 313“ – Was kann die Spezialeinheit der Taliban? In: tagesspiegel, 26.08.2021.
SIGAR (Hg.) (2021): What we need to learn: Lessons twenty years of Afghanistan Reconstruction. Special Inspector for Afghanistan Reconstruction.
SIGAR (Hg.) (2022): Collapse of the Afghan National Defense and Security Forces. An Assessment of the Factors That Led to Its Demise. Special Inspector for Afghanistan Reconstruction.
Sinclair, Leah (2021): Afghan president flees country to avoid violence as Taliban claim victory in Kabul. In: Evening Standard, 15.08.2021.
Spiegel (Hrsg.) (2022): Ghani wohl nicht mit mehreren Millionen Dollar geflohen. In: spiegel, 07.06.2022.
Yasini, Inayatulhaq; Natarajan, Swaminathan (2022): The pilot who defected to the Taliban in his Black Hawk. BBC. London.
Bildrechte
Bild (Startbild): Somewhere in Afghanistan. (Oder wie ich es nennen würde: Die afghanische Geisterarmee auf dem Vormarsch.) Autor: J McDowell Lizenz: Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).
Weitere Informationen zum Urheberrecht unter Kontakt/Impressum/Lizenz.
Bei Interesse können die statistischen Daten für die Grafiken per Mail zugesandt werden.
Ein Gedanke zu “Zeitsplitter: Geistersoldaten”