22 Thesen
Dreißig Jahre Außenpolitik des vereinigten Deutschlands geben Gelegenheit, Bilanz zu ziehen, Herausforderungen aufzuzeigen und Prognosen zu stellen. WeltTrends betrachtet die Entwicklungen seit 1990 sowie die kommenden Wahlen zum Bundestag im Oktober 2021 als Teil der laufenden außenpolitischen Diskussion und versucht, Denkanstöße zu geben.
I. Politische Grundlagen
(1) Mit der Einheit von 1990 bekam Deutschland nach 1870/71 und 1919 die dritte historische Chance auf Eigenentwicklung in voller Souveränität. Dieser Neubeginn, nach selbstverschuldetem Weltkrieg, Niederlage und vier Jahrzehnten Spaltung, leitete einen anhaltenden Positionierungsprozess Deutschlands in den internationalen Beziehungen ein. Er ist Bestandteil einer globalen Umgestaltung der Weltordnung inklusive gravierender Verschiebungen der Kräfteverhältnisse. Deutschland selbst ist dabei Teil und Akteur der Umbrüche. Im Rahmen der Neubestimmung deutscher Interessen nach 1990 galt es, das gesamte internationale Umfeld zu bewerten. Völkerrechtliche Grundlagen dafür waren insbesondere der „2+4-Vertrag“ über die deutsche Einheit und die (KSZE-)Charta von Paris (1990), die Charta der Vereinten Nationen (1945) sowie das reformierte Grundgesetz Deutschlands (1949/94).
(2) Der Übergang vom bipolaren Weltsystem des 20. in die globale Multipolarität des 21. Jahrhunderts wurde von den Führungskreisen in den Regierungskoalitionen unter Helmut Kohl (1982-1998), Gerhard Schröder (1998-2005) und Angela Merkel (2005-2020) – wenn auch differenziert, widersprüchlich und fehlerlastig – im Wesen verstanden, mitgestaltet und für Deutschlands Aufstieg genutzt. Konstanten deutscher Außenpolitik sind: die Verrechtlichung der internationalen Politik, „eine regelbasierte Ordnung“ zu fördern sowie Alleingänge auszuschließen und stets in Kooperation zu handeln, sei es mit anderen Einzelstaaten und/ oder bevorzugt im Rahmen internationaler Organisationen wie der EU, der OSZE, der NATO, der G20 und der Vereinten Nationen.
(3) Deutschland hat in den 1990er Jahren zwei strategische Aufgaben parallel erfolgreich realisiert: (a) Der Prozess der deutschen Einheit vollzog sich friedlich – kein Bürgerkrieg, keine Generalstreiks, keine systemgefährdenden sozialen Unruhen – und schuf mit diesem demokratischen Grundverständnis in beiden deutschen Teilstaaten die Grundlagen für eine dynamische Eigenentwicklung Gesamtdeutschlands sowie die Stärkung der Europäischen Union. (b) Gelang Deutschland eine außenwirtschaftliche Expansion sowie der ökonomische und technologische Aufstieg, von einer europäischen Zentralmacht in die Gruppe weltweit agierender Staaten. Grundprinzipien deutscher Außenpolitik in diesem Jahrzehnt waren internationale Integration, eine West-Ost-Brückenfunktion und politische, militärische sowie ökonomische Selbstbeschränkung.
(4) Die außenpolitische Orientierung war über den gesamten Zeitraum 1990-2020 geprägt von Auseinandersetzungen innerhalb der Führungseliten über die inhaltliche und geostrategische Schwerpunktsetzung bei der Rolle Deutschlands in Europa und der Welt. Der in den 1990er Jahren noch vornehmlich rückwärtsgewandte Bezug auf die traditionelle „Westpolitik der alten“ Bundesrepublik verzögerte die Entstehung einer zeitgemäßen neuen Orientierung. Es ging unter der Kohl-Regierung noch vorrangig um die innere ökonomisch-soziale Stabilisierung Deutschlands nach der Einheit. Die Führungselite war noch „nicht reif für die Weltpolitik“.
(5) Die deutsche Außenpolitik verselbständigte sich schrittweise unter der Rot-Grünen-Regierung mit Kanzler Schröder. Es erfolgten konzeptionelle Neuorientierungen, wie der Ausbau „Strategischer Partnerschaften“ mit Russland und China sowie die Verweigerung einer Teilnahme am US-geführten Krieg gegen den Irak. Der neue Charakter einer interessengeleiteten Politik Deutschlands in Eurasien wurde deutlich. Die Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Führungseliten zwischen den USA-orientierten „Transatlantikern“ und den „Europäern“, die eine strategische Autonomie der EU/Deutschlands anstrebten, spitzten sich fortlaufend zu. Die Münchner Sicherheitskonferenz 2014 war ein Höhepunkt. Durch den Pseudo-Konsens von einer „neuen deutschen Verantwortung“ – die, vom damaligen Bundespräsidenten und der Verteidigungsministerin, vorrangig militärisch artikuliert wurde – versuchten die „Transatlantiker“, aus ihrer Defensivposition herauszukommen. Es gelang ihnen jedoch nicht, die seit Jahrzehnten ablehnenden Positionen der Mehrheit der Bevölkerung (60-80 Prozent) zur Aufwertung des Militärischen in der Außenpolitik umzustimmen.
(6) Hegemoniale Vorstellungen deutscher EU-Dominanz nach 1990 – beispielhaft das „Kerneuropa-Konzept“ (1994, Schäuble-Lamers-Papier) – wurden unter der Merkel-Regierung partiell zurückgenommen, gerieten spätestens 2010 in eine Sackgasse und scheiterten bislang an den Interessengegensätzen der EU-Staaten. Symptomatisch dafür sind u.a.: Die unkoordinierten nationalen Maßnahmen zur Bewältigung der Weltwirtschaftskrise 2008-12; das Scheitern der EU-Nachbarschaftspolitik „Ost“ (Kaukasus, Ukraine, Belarus) und „Süd“ (Mittelmeerraum ab 2011); die Flüchtlingswelle und das Scheitern der Dublin-Verträge (2014-20); die zunehmende EU-Fragmentierung bezüglich der Euro-Union (insbesondere Südstaaten); die Formierung autoritärer Regierungen (Italien/ Österreich/ Polen/ Ungarn); eine Zunahme spaltender Tendenzen mit dem Extrem des Brexit (2016-2020); die Konflikte bei der Durchsetzung deutscher Russlandpolitik (z.B. North Stream 2); die Aufgabe der Blockade bei den Corona-Bonds (2020); und in besonderer Weise die konzeptionellen Differenzen mit Frankreich in der Europapolitik um die „Strategische EUAutonomie“, das Verhältnis zu den USA und zur NATO. Die deutsche Außenpolitik des letzten Jahrzehnts ist wesentlich geprägt durch zum Teil aktionistisches Krisenmanagement, vor allem zur Stabilisierung der EU und der kriegsgebeutelten Nachbarregionen.
II. Außenwirtschaft
(7) Unter maßgeblicher Initiative der EU-Kernstaaten – vor allem Deutschlands und Frankreichs – gelang es in den vergangenen drei Jahrzehnten, insbesondere mit der Schaffung des Gemeinsamen Marktes (1993) und der Euro-Währungsunion (1999), die ökonomische Integration der Europäischen Union voranzutreiben. Gleichzeitig wurde mit großem Engagement Deutschlands die Mehrheit der mittel- und südosteuropäischen Staaten in die Union aufgenommen (2004/2007). Es entstand einer der weltweit größten, höchst produktiven Wirtschaftsräume, mit einer Bevölkerung von über einer halben Milliarde Menschen sowie einer entwickelten Demokratie und Lebensqualität. Mit der Lissabon-Strategie (2000) und dem Grundlagenvertrag (2009) artikulierte die EU auf Initiative von Deutschland und Frankreich ihren Großmachtanspruch im multipolaren Weltgefüge des 21. Jahrhunderts.
(8) Deutschland ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 3.450 Milliarden € (2019; 1.307 Mrd. € 1990) der wirtschaftlich stärkste Staat Europas und wurde nach der Jahrhundertwende zu einer global vernetzten geo-ökonomischen Macht. Von vitaler Bedeutung ist dabei die EU-Integration (deutscher EU-BIP-Anteil über 20 Prozent). Sie stellt anteilig mit ca. 50-60 Prozent des deutschen Außenhandels eine unverzichtbare ökonomische Basis für die nach 2000 überproportional wachsende Expansion Deutschlands in die Weltwirtschaft dar. Die Außenwirtschaftsquote stieg seit 1990 von ca. 40 auf 72 Prozent zum BIP und signalisiert eine außerordentlich hohe Wirtschaftsverflechtung bzw. Abhängigkeit vom Funktionieren eines „liberalen“ Welthandels. Deutschlands größte Handelspartner 2019 sind China (Ex-/Import 99:106 Mrd. €) und die USA (113:60 Mrd. €).
Der Aufbau hoher Exportüberschüsse – verursacht durch eine Konzentration auf Hochtechnologiegüter, die Durchsetzung von Lohndumping zulasten der eigenen Bevölkerung (Lohnstopp 1995-2015) und Euro-Manipulationen – steigerte sich von 1990 bis 2019 von unter 50 auf über 200 Mrd. Euro (bei insgesamt ca. 1.300:1.000 Mrd. € Ex-/Import). Die damit verbundene Euro-Einführung (1993-2002) erweist sich für Deutschland sowohl als ein festigendes, in der Bedeutung wachsendes währungspolitisches Instrument der EU-Integration, als auch ein Instrument zur Haushaltsdisziplinierung einzelner EU-Länder sowie zur globalen Machtprojektion in Konkurrenz zum Dollar-Raum. Wachsende Handels- und Währungskonflikte sind vorprogrammiert.
(9) Bemerkenswert ist die Dynamik der deutschen Wirtschaft ab Mitte der 1990er Jahre bei der globalen Expansion. Innerhalb einer Dekade wurden von der Kohl- und Schröder-Regierung vorrangig ökonomisch determinierte „strategische Partnerschaften“ zu den Großstaaten Eurasiens – Russland, China, Indien – in Gang gesetzt. Deutschland baute die USA bis 2005 zum außenwirtschaftlichen Hauptmarkt außerhalb Europas aus, mit mehr als einer Verdopplung der Exporte (66 Mrd. €) und einer sechsfachen Steigerung der Handessüberschüsse (27 Mrd. €). Die von den USA ausgelöste Weltwirtschaftskrise 2008/10 überwand Deutschland schneller als alle anderen EU-Partner und weitgehend unbeschadet. In der laufenden Corona-Krise 2020/21 deutet sich, auch aufgrund der globalen Aufstellung der Wirtschaft ähnliches an. Zu konstatieren sind, verursacht durch Deutschlands nationalegoistische Handelspolitik und Wohlstandschauvinismus, zunehmende Spannungen mit den USA und im EU-Integrationsverbund sowie die Zuspitzung zentrifugaler Tendenzen in der EU.
III. Militärwesen
(10) In Umsetzung des 2+4-Vertrages (1990) erfolgte ein Abzug ausländischer Streitkräfte. Annähernd 750.000 Soldaten (insbesondere Russland 380.000, USA 220.000) verließen Deutschland. Die Personalstärke der Bundeswehr wurde seitdem von ca. 600.000 auf 182.000 reduziert, die Wehrpflicht 2011 ausgesetzt und eine Berufsarmee geschaffen. Die Entwicklung der Militärpolitik Deutschlands wurde konzeptionell vorbereitet durch Verteidigungspolitische Richtlinien (1992, 2003, 2011) und Weißbücher zur Sicherheitspolitik (1994, 2006, 2016). Nach einem intensiven Konversions- und Abrüstungsprozess von Personal und Großkampfwaffen fanden ab Mitte der 1990er Jahre waffentechnische Modernisierungen und die Umstrukturierung der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer offensiven „Armee im Einsatz“ statt. Eine völkerrechtlich strittige Uminterpretation des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht ging dem 1994 voraus.
(11) Seit Anfang der 1990er Jahre wird die Bundeswehr im Ausland bei der Katastrophenhilfe und in friedenserhaltenden Maßnahmen eingesetzt. Der völkerrechtswidrige Tabubruch erfolgt 1999 mit dem Kriegseinsatz im Kosovo unter der rot-grünen Schröder-Regierung sowie ab 2002 die Teilnahme der Bundeswehr am anhaltenden Afghanistankrieg. Die über 40 Auslandseinsätze fanden prinzipiell im internationalen Verbund der NATO, EU und/oder UNO statt. Die Bevölkerung Deutschlands lehnt die Auslandseinsätze mehrheitlich ab. Unter der Merkel-Regierung erfolgte (auch deshalb) eine partielle Umorientierung. Nach dem Prinzip „Befähigung statt Beteiligung“ liegt der Schwerpunkt der Einsätze bei Unterstützung, Ausbildung, Training und Bewaffnung einheimischer Streitkräfte.
(12) Der Verteidigungshaushalt Deutschlands ist von 1990 bis 2014 relativ stabil knapp unter 30 Mrd. €, bei Absenkung des BIP-Anteils von 2,7 auf 1,2 Prozent. Eine Trendumkehr bei der absoluten Steigerung wird 2014 mit dem „2-Prozent-Beschluss“ der NATO in Wales eingeleitet. Bis 2020 steigert Deutschland unter Anpassungsdruck der Trump-Administration seine Rüstungsausgaben pro Jahr auf 45 Mrd. € (1,3 % BIP-Anteil). Parallel dazu durchlief der industrielle Rüstungskomplex Deutschlands einen hocheffizienten Modernisierungsprozess. Die Zahl der Beschäftigten verringerte sich seit 1990 von über 350.000 auf gegenwärtig unter 100.000. Trotz gegenteiliger politischer Erklärungen ist der weltweite Rüstungsexport zur „Normalität“ geworden (seit 2000 jährlich ca. 1-3 Mrd. €). Deutschland stieg zum weltweit fünft-/viertgrößten Rüstungsexporteur auf. Unter Umgehung und Aushöhlung des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen werden Rüstungsgüter auch in Konflikt- und Kriegsregionen geliefert. Die subventionierte deutsche Rüstungsindustrie entzieht der Zivilwirtschaft Finanzen, qualifiziertes Personal, Forschungspotential und wertvolle Ressourcen.
(13) Angesichte der Sinnkrise der NATO nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem wachsenden Misstrauen gegenüber den USA („Bündnisse der Willigen“ bereits unter George W. Bush Anfang der 2000er Jahre) forcierten die EU-Staaten eigenständige Verteidigungsanstrengungen. 1993 beschloss die EU in Maastricht im Rahmen einer „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ die Schaffung einer Europaarmee. Unter der Merkel-Regierung erhielt diese Orientierung neue Dynamik und wurde 2017 durch eine Ständige Strukturierte Rüstungszusammenarbeit (PESCO) erweitert. Ähnliche Ansätze scheiterten schon mehrfach unter größeren „Bedrohungsphobien“ während des Kalten Krieges. Dennoch zeigt sich in der Tendenz eine auch von Deutschland betriebene EU-Orientierung auf eine stärkere Eigenständigkeit in der Verteidigungspolitik.
(14) Militärisch auf sich selbst gestellt, verfügt Deutschland im Jahre 2020 nicht über Streitkräfte für eine langanhaltende Intervention oder Kriegsführung. Es ist und will keine militärische Bedrohung für ein anderes Land sein und wird selbst von keinem Land bedroht. Mit dieser Situation ist vor allem die übergroße Mehrheit der Bevölkerung in ihrer antimilitaristischen Grundhaltung, aber auch das Gros der Führungskräfte Deutschlands zufrieden. Zu einer entsprechenden Analyse und militärpolitischen bzw. rüstungsbegrenzenden Schlussfolgerungen ist ein beschränkter, aber einflussreicher Kreis vor allem neokonservativer Transatlantiker bislang nicht bereit. Die Funktionsbesetzung der Verteidigungsminister, meist mit Personen ohne entsprechende Fachkenntnisse, erwies sich besonders während der großen Koalitionen der Merkel-Regierung ab 2005 als hinderlich bei der strategischen Ausrichtung und Zielbestimmung der deutschen Verteidigungspolitik. Das führte zu mehrfachem Scheitern von Bundeswehrreformen und impliziert kritikwürdige Einsatzaufgaben der Bundeswehr.
(15) Der Prozess nuklearer und konventioneller Rüstungsbegrenzung und Abrüstung ist zum Stillstand gekommen. Deutschland setzt sich nur äußerst inkonsequent, vorrangig plakativ für seine Wiederaufnahme ein. Pseudoargumente sind dabei die fragile „Abschreckungsdoktrin“ der NATO und ominöse Bedrohungen, die angeblich von Russland und anderen ausgehen. Beispielhaft dafür ist die Weigerung, dem Vertrag über das Kernwaffenverbot (2017), der 2021 in Kraft tritt, beizutreten. Während noch bis 2012 bis in Regierungskreise Deutschlands hinein die Aufgabe der „nuklearen Teilhabe“ und ein Abzug der US-Kernwaffen aus Deutschland gefordert wurde, ist diese Zielstellung seitdem aufgegeben worden. Ähnlich verhält es sich mit der konventionellen Abrüstung. Der erfolgreiche Vertrag zu konventionellen Streitkräften in Europa von 1990 und seine Fortsetzung 1999, der zur Abrüstung von über 60.000 schweren Waffensystemen führte, wurde 2011 beendet. Von der humanistischen Vorstellung der 1990er Jahre, durch Rüstungsbegrenzung/ Abrüstung eine Friedensdividende für die sozial-ökologische Transformation zu erzielen, hat sich die gegenwärtige Gührung Deutschlands konzeptionell und praktisch entfernt.
IV. Nachhaltigkeit – Umwelt/Klima – Migration
(16) Das 20. Jahrhundert war geprägt von zwei Weltkriegen, einer bipolaren Systemkonfrontation im Kalten Krieg und der Angst vor einem nuklearen Armageddon. Hauptgefahren der Weltzivilisation des 21. Jahrhunderts sind destabilisierende Klimaveränderungen mit ausufernden multiplen Krisen – Hunger, Wassermangel, regionale Verteilungskonflikte/-Kriege, Flüchtlingsströme, Naturkatastrophen. Die imaginäre Gefahr eines Atomkrieges wird seitens der Bevölkerung und der Führungseliten mehrheitlich überlagert vom Gefahrenbewusstsein real sichtbarer Umwelt- und Existenzkrisen. Der zivilisatorische Schwerpunktwechsel erweist sich günstig für eine neue deutsche Außen-/Klimapolitik seit Anfang der 1990er Jahre. Dem tragen die Führungen Deutschlands, wenn auch offensichtlich inkonsequent, zunehmend Rechnung.
(17) Unmittelbar nach der deutschen Einheit fand 1992 die Umweltkonferenz von Rio de Janeiro statt. Dort wurden Schwerpunkte einer globalen Konzeption für Umwelt- und Klimastabilisierung für das 21. Jahrhundert beschlossen. Deutschland brachte sich von Anbeginn aktiv ein. Ein sichtbarer umweltpolitischer Neuansatz begann schon in der Endphase der Kohl-Regierung. Mit dem „Kyoto-Protokoll“ (1997) zur Beschränkung des CO2-Ausstoss unter dem Niveau von 1990, begann sich in Deutschland ein neuer Gesellschaftskonsens durchzusetzen. Der Durchbruch erfolgte unter der rot-grünen Schröder-Regierung ab 1998: Programmatische Umweltfestlegungen im Koalitionspapier (1998), Einleitung Atomausstieg/Energiewende (2000), Beschluss einer Nachhaltigkeitsstrategie für die nächsten Jahrzehnte (2002). Gemeinsam mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie initiierte die Merkel-Regierung eine Strategie (2010, 2020) zur Rohstoff-/Energiesicherheit in der Trinität von Versorgung, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit. Deutschland wurde mit weltweit über 20 Prozent ein Haupthersteller von Hochleistungstechnologie im Bereich Umweltschutz (EU über 50 Prozent). Diese Entwicklung ist eng verflochten mit den Erfolgen der exportorientierten Außenwirtschaftspolitik. Wenngleich Deutschland im Vergleich zu anderen großen Mächten – USA, China, Russland, Indien – relativ positiv zu bewerten ist (globaler Umwelt-Index EPI unter den ersten 15), bleibt seine Umwelt-/Klimapolitik insgesamt eklatant hinter den internationalen Notwendigkeiten zurück. Auch in Mitteleuropa öffnet sich die Katastrophen-Schere weiter, zeigt sich eine deutliche Differenz zwischen ökologischem Gefahrenbewusstsein und praktischer Umweltpolitik.
(18) Die desaströse Umweltsituation ist eine Hauptursache zunehmender Flüchtlingsströme aus Afrika und Asien. Sie bewegen sich vor allem in Richtung der EU, nach Mittel- und Nordeuropa (nicht so nach China, Indien und Russland). Deutschland wurde nach 1990 und insbesondere ab 2015 zum Einwanderungsland mit sich entwickelnder Integrationspolitik. Die Migration löste die stagnative Bevölkerungsentwicklung auf, besonders den quantitativen Arbeitskräftemangel, spitzt jedoch Integrationsprobleme zu. Die Ursachenbekämpfung erfordert auch von Deutschland eine in der Jahrhundert-Dimension angelegte, grundsätzlich veränderte Entwicklungs-/Außenwirtschaftspolitik, eine „neue Weltwirtschaftsordnung“, einen EU-„Marshallplan für/ Compact with Africa“ (2017), geprägt durch wirtschaftspolitische Verteilungsgerechtigkeit. Entsprechende Überlegungen wurden in den vergangenen Jahren von Organisationen der Entwicklungshilfe, vom Entwicklungsministerium sowie vom Auswärtigen Amt angeregt, erreichten aber nicht die Ebene der deutschen Gesetzgebung. Die Hauptkomponente bleibt vorerst eine auch von Deutschland aktiv vorangetriebene, kurzsichtige Politik der Abschottung an den EU-Außengrenzen (2004, Gründung „Frontex“).
V. Deutschland in der globalen Multipolarität
(19) Die Außenpolitik Deutschlands im 21. Jahrhundert ist eine Stabilitätsstrategie im multilateralen Staatenkonzert. Geostrategische Schwerpunkte sind auf absehbare Zeit die großen Globalmächte Europäische Union, die USA und China. Darüber hinaus bedarf es einer engen Kooperation mit wichtigen kontinentalen Schlüsselstaaten, insbesondere mit Russland, Indien, Japan, Brasilien, Südafrika. Problematisch ist, dass nach einer scheinbaren Demokratisierung in den 1990er Jahren, besonders seit der Weltwirtschaftskrise 2008/10 autoritäre Verhaltensweisen wieder zunehmen und sich entsprechende Machtstrukturen in einer Mehrzahl der großen Mächte durchsetzen. Dem stellt die EU/Deutschland eine demokratische Alternative entgegen. Die von der Merkel-Regierung praktizierte „werteorientierte Außenpolitik“ wird jedoch von der Mehrheit der Staaten – durchaus nachvollziehbar – als doppelbödig, „ethischer Imperialismus“ und „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ abgelehnt.

(20) Für die Europäische Union hat die Stabilisierung und Vertiefung der Integration absolute Priorität. Nur eine im Wesen geeinte EU kann den eigenen Anspruch einer politisch-ökonomischen Weltmacht ausfüllen. Unabdingbare Voraussetzung für eine Mitgestaltung der globalen Multipolarität ist dabei eine souveräne „Strategische Autonomie“. Dabei haben Deutschland und Frankreich im engen Bündnis eine besondere europäische und globale Verantwortung. Der Aachener Vertrag von 2018 – in Kontinuität zum Élysée-Vertrag von 1963 – fordert eine Vertiefung ihrer „Zusammenarbeit in der Europapolitik. Sie setzen sich für eine wirksame und starke Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ein und stärken und vertiefen die Wirtschafts- und Währungsunion.“ Dem Geist dieses Vertrages sind die jüngsten deutsch-französischen Querelen über die „EU-Autonomie“ abträglich.
(21) Die USA bleiben ein allseitig enger Bündnispartner Deutschlands. Die transatlantischen Beziehungen haben in den letzten Jahren aber einen „heilsamen Trump-Schock“ bei der deutschen Bevölkerung und großen Teilen der Führungselite ausgelöst. Die Biden-Administration wird in der Form eine moderatere, aber im Kern eine ähnlich interessengeleitete Politik praktizieren. Das erfordert eine Neubewertung der gegenseitigen Beziehungen, inklusive der Zusammenhänge mit China und Russland. Angesagt ist eine kritisch-selbstbewusste Distanz und nachdrückliche Konsequenz bei der Durchsetzung eigener Interessen. Die Auseinandersetzungen um die Neubewertung des Verhältnisses Deutschland/ EU zu den USA sind im Gange.
(22) Die Beziehungen zu China haben sich seit 1990 außerordentlich produktiv entwickelt. Seit 2011 fanden regelmäßige deutsch-chinesische Regierungskonsultationen statt. Die eurasische Achse EU-Russland-China ist für Deutschland mit Blick auf die Beschaffungs- und Absatzmärkte ein erstrangiger ökonomischer Stabilisator für die eigene Entwicklung. In den letzten Jahren haben sich die Beziehungen verkompliziert. China wird seitens der EU und Deutschlands als „Partner, Konkurrent und System- Rivale“ gesehen. Eine von den USA betriebene ökonomische Entkopplung Chinas vom Westen liegt nicht im Interesse Deutschlands. Politische Differenzen belasten teilweise die bilateralen Beziehungen – Hongkong, Uiguren, Tibet, Taiwan, Südchinesisches Meer – und müssen sachlich behandelt werden.
Der Artikel erschien 2020 zuerst in „30 Jahre Berliner Außenpolitik – Herausforderungen und Begrenztheit“ (Hrsg. Erhard Crome). Die Publikation entstand im Rahmen des jedes Jahr stattfindenden Potsdamer Außenpolitischen Dialog. Er ist auch als PDF verfügbar.
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