Derzeitige Aktualisierung: April 2022
Erste Fassung: Frühjahr 2014
Monatlich veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit die neuesten Zahlen zur Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes. Allerdings beruhen diese Einschätzungen auf eher kurzfristigen statistischen Daten. Eine realistische Betrachtung des Arbeitsmarktes muss tiefgründiger in die Vergangenheit schauen. Dabei zeigt sich, dass die bisherige Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland in vier Phasen verlief:

1950 – 1960: Anhaltender Rückgang
Der Arbeitsmarkt war Anfang der 1950er Jahre gekennzeichnet durch eine hohe Massenarbeitslosigkeit. Die Ursachen lagen in den Nachwirkungen des II. Weltkrieg sowie der Zuwanderung von Deutschen aus Osteuropa und dem Balkan. Allerdings ging die Arbeitslosigkeit in Folge des Wirtschaftsaufschwunges rasch zurück. Die Anzahl der Arbeitslosen reduzierte sich bis 1960 von mehr als 1,8 Millionen auf unter 300.000. Dabei sank die Arbeitslosenquote 1959 erstmals unter die drei Prozent Marke.
1960 – 1973: Vollbeschäftigung
Die Höhe der Arbeitslosenquote pendelte in dieser Phase zwischen ein und zwei Prozent. In den Jahren 1965 und 1970 registrierten die Arbeitsstatistiken die historisch niedrigsten Werte – weniger als 150.000 Menschen waren offiziell arbeitslos gemeldet. Das entsprach einer Quote von 0,7 Prozent. Selbst in Folge der Wirtschaftskrise 1967 stieg die Anzahl der Arbeitslosen nicht über 500.000.
Die Bundesregierung reagierte auf die Überbeschäftigung des Produktionsfaktors mit einer gezielten Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Von 1955 bis 1968 schloss die BRD Anwerbeabkommen mit neun Staaten (Italien, Spanien, Griechenland, Türkei, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien, Jugoslawien). Heutige Analysen gehen von einer dadurch stimulierten netto Arbeitsmigration von ungefähr 2,6 Millionen Menschen (Vgl. Sippel 2009) aus.

1974 – 2005: Anstieg strukturelle Arbeitslosigkeit
Innerhalb von zwei Jahren nach der ersten Erdölkrise stieg die Anzahl der Arbeitslosen von 270.000 auf über eine Million. Der Arbeitsmarkt ist seitdem durch eine strukturelle (Massen-)Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Selbst in konjunkturellen Aufschwüngen sinkt die Anzahl der Arbeitslosen nicht unter bestimmte Schwellenwerte. Bei einem erneuten Abschwung kommen weitere dauerhaft Arbeitslose hinzu. Der Schwellenwert stieg mit jedem Konjunkturzyklus um ca. eine weitere Mio. Arbeitslose an.
Bis Mitte der 2000er Jahre wurde langfristige Arbeitslosigkeit und Armut für ca. 3,5 Millionen Menschen trauriger Dauerzustand.

Ab 2006: Rückgang bei Zunahme sozialer Probleme
Den bisher höchsten Wert erreichte die Arbeitslosigkeit im Jahr 2005 mit durchschnittlich 4,8 Mio. Arbeitslosen. Ohne wirtschafts-politische Gegenmaßnahmen hätte sich wahrscheinlich eine neue Schwelle am Arbeitsmarkt mit mindestens vier Mio. Arbeitslosen bzw. einer Mindestquote von acht Prozent etabliert.
Besonders in Ostdeutschland, wo die Arbeitslosenqute stabil um die 20 Prozent lag, manifestierten sich erhebliche volkswirtschaftliche und soziale Problemlagen. Damit stand und steht bis heute die Frage, wie viel Arbeitslosigkeit und damit Armut bzw. Abhängigkeit vom Sozialstaat das politische System in Deutschland dauerhaft ertragen kann?

Spätestens gegen Ende der 1990er Jahre wuchs der soziale und politische Druck, einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Die wirtschafts-politischen Maßnahmen der Schröder-Regierung – Stichwort „Agenda 2010“ – sollten eine Antwort formulieren. Sie waren im Kern eine Fortschreibung der seit den 1980er Jahren dominierenden monetaristischen Konzepte. Alternative Ansätze setzten sich nicht durch.
Mit der Implementierung der Reformen geht die Arbeitslosigkeit seit über zehn Jahren kontinuierlich zurück. Gleichzeitig konnte die Zahl der Erwerbstätigen um ca. vier Millionen erhöht werden. Der Aufbau von Arbeitsplätzen kam in allen Segmenten des Arbeitsmarktes an. Sichtbare Zeichen sind auch der Rückgang der Unterbeschäftigten (arbeitsfähige Menschen, die u.a. sich in staatlichen Programmen zur Weiterbildung bzw. Beschäftigungen befinden) als auch der Langzeitarbeitslosen.
Allerdings dürfen hier die Erfolge der „Agenda“ nicht überbewertet werden. Die Absenkung wurde mit zunehmenden sozialen Härten erkauft. Auch dürfen die Effekte der viel diskutierten „Hartz-Gesetze“ nicht singulär betrachtet werden. Sie entfalten ihre Wirkung durch ein Zusammenspiel weiterer wirtschaftspolitischer Entwicklungen.
1. Binnenwirtschaftliche Rahmenfaktoren
So erfolgte parallel zu einer deutlichen Absenkung der realen Sozialleistungen, der Aufbau eines umfassenden Niedriglohnsektors. Gleichzeitig übten die Ausweitung der Zeitarbeit und die seit den 1990er forcierte Zerschlagung der Flächentarife, erheblicher Druck auf die Löhne aus. Damit entstand eine bis heute anhaltende Lohnspreizung, die mit einer flächendeckenden Absenkung der Arbeitsentgelte einhergeht. Insbesondere das untere Drittel der Bevölkerung verdient gegenwärtige weniger in den 1990er Jahre.
Als wesentlicher Beschleuniger der monetaristischen Konzepte erwies sich die „Schocktherapie“ der ostdeutschen Wirtschaft. Die flächendeckende Auflösung und Abwicklung ganzer Branchen, die offene Verhinderung gewerkschaftlicher Strukturen bzw. von Flächentarifen, die ökonomische Schwächung durch Rückgabe sprich Enteignung der Immobilien sowie der forcierte Elitenwechsel schufen eine Massenarbeitslosigkeit, die zu einer bis in die Gegenwart anhaltenden Lohnkonkurrenz führt. Das Platzen der Spekulationsblasen insbesondere im Immobiliensektor ab Mitte der 1990er Jahre verstärkten die wirtschaftlichen Problemlage.
Die einsetzende Massenmigration in den Westen beraubt(e) den Osten seines Humankapitals. Gleichzeitig erodierten damit auch in Westdeutschland etablierte Lohngefüge. Steigende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und anziehenden Belastungen für die Stabiliserung der neuen Bundesländer vertieften auch in wirtschaftlich starken Regionen die sozialen Spaltung. Auch in Westdeutschland entstanden wie beispielsweise im Norden Hessens und Bayerns, im Ruhrgebiet, dem Saarland oder Schelswig-Holsteins dauerhaft abgehängte Regionen.
Hinzu kam eine streng an überholten Konzepten orientierte Zinspolitik der Bundesbank. Diese fürchtete eine steigende Inflation in Folge der fiskalischen Impulse zur Bewältigung der Einheit. Als Antwort darauf, schleuste sie in den 1990er Jahren die Zinsen auf ein Niveau, dass die den Stimulus der Bundesregierung zeitweilig völlig kompensierte. Erst mit dem Euro-Eintritt und der Entmachtung der Bundesbank verbesserte sich das reale Zinsniveau und damit auch die Kreditversorgung der Wirtschaft.
Die makro-ökonomsichen Belastungen durch Fehler bei der Wiedervereinigung schwächten sich erst ab Mitte der 2000er Jahre ab. Die Wirtschaft fand in ein neues Gleichgewicht – nach einen harten inneren Bereinigungsprozess. Dabei stabilisierte sich die ost-deutsche Wirtschaft auf dauerhaft niedrigeren Niveau als in den alten Bundesländern. Die soziale und wirtschaftliche Spaltung wird zum Dauerzustand. Der Aufstieg bzw. gesamtdeutsche Elablierung von DIE LINKE und AfD bedeutet die Übertragung dieses Auseinanderdriften auch in den politischen Bereich.
2. Außenwirtschaftliche Faktoren
Seit den 1990er Jahren vollzieht sich ein umfassender Wandel der außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Im Rahmen des gemeinsamen Marktes sowie der EU-Osterweiterung erleichterte sich für die deutsche Wirtschaft der Zugang zu den EU-Märkte deutlich.
Dabei waren die Folgen zuerst wenig positiv. Der Zusammbruch der osteuropäischen Volkswirtschaften bedeutete für die ostdeutsche Industrie den Verlust ihrer Absatzmärkte und verstärkte ihren Niedergang. Gleichzeitig verschärfte sich die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und trug so wesentlich zur Lohnerosion bei. Die Entstehung neuer volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung auf europäischer Ebene ging auch mit bis heute anhaltenden sozialen Problemlagen einher.
Seit Ende der 1990er Jahre überwiegen aber die positiven Wirtschaftsimpulse für Deutschland. Mit der wirtschaftlichen Erholung Osteuropas entstand ein neuer wichtigen Absatz- und Beschaffungsmarkt. Gleichzeitig verhinderte die Einführung des Euros einen Anstieg der Wechselkurse. Die gesamtdeutsche Wirtschaft blieb trotz steigender Handelsüberschüsse konkurrenzfähig. Die erzielte Gewinne im Außenhandel trugen wesentlich zum Aufbau exportorientierter Arbeitsplätze bei.
Die Ungleichzeitigkeit der verschiedenen Impulse führten erst zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit und deren anschließenden allmählichen Abbau.
Sinkende Arbeitsstunden
Trotz der hohen sozialen Kosten erreichten die Maßnahmen bisher „nur“ eine Rückführung der Arbeitslosigkeit auf das Niveau von Anfang der 1990er Jahre. Sozio-demographische Daten zur Entwicklung des volkswirtschaftlichen Arbeitsvolumen lassen die Herausbildung einer neuen Schwelle bei 2 bis 2,5 Millionen Arbeitslosen vermuten. Die aktuelle Politik stößt damit an Systemgrenzen.
Interessanterweise haben die seit fast drei Dekaden praktizierten neo-liberalen Wirtschaftskonzepte bisher nicht zu einer Zunahme der in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden geführt. Sie liegt derzeit, inklusive Überstunden sowie der Arbeitsleistung von Selbstständigen und Familienangehörigen unter dem Niveau von 1991. Da sich gleichzeitig die Anzahl der Erwerbstätigen um ca. 50 Prozent erhöhte, ging die durchschnittliche Arbeitszeit pro Erwerbstätigen deutlich zurück. Ein Trend der seit den 1960er Jahren anhält. Inzwischen liegt die wöchentliche Arbeitszeit bei knapp über 30 Stunden.

Eine Absenkung der durchschnittlichen Stundenzahl ohne entsprechenden Lohnausgleich – der bis in die 1980er Jahre stattfand – bedeutet real eine deutliche Verschlechterung der Einkommen breiter Kreise der Bevölkerung. Armut trotz Arbeit wird damit von einem Randphänomen zur Massenerscheinung.
Grenzen des Arbeitsmarktes
Gegenwärtig zeigen sich immer deutlicher die Grenzen der neoliberalen Reformen. Die Senkung der Arbeitslosigkeit bzw. die Entstehung „neuer“ Arbeitsplätze wurde / wird duch soziale Problemlagen erkauft. Eine adequate Ausweitung der volkswirtschaftlichen Arbeitszeit findet nicht statt. Die Unternehmen verfügen über genügend Arbeitskräfte.
Weitere Vergrößerungen des Arbeitskräftepotential, insb. über Zuwanderung und Erhöhung der Frauenarbeit, führen in einer wachsenden Zahl der Wirtschaftssektoren nur noch zu einem höheren Niveau der Ausbeutung. Die Absenkung der Stundenzahl pro Erwerbstätigen führt zu einer steigenden Produktivität. Da aber kein Lohnausgleich erfolgt, wachsen zwar die Gewinne der Unternehmen, aber nicht die volkswirtschaftlichen Arbeitseinkommen.
In Folge klafft die Entwicklung von Unternehmensgewinnen und volkswirtschaftlicher Nachfrage immer weiter auseinander. Mangels Nachfrage lohnen sich Investiotionen im Inland immer weniger. Die Folge sind deflationäre Tendenzen sowie wachsende Orientierungen auf Auslandsmärkte. Allerdings können beide Entwicklung nicht ewig anhalten, zumal international das Verschuldungsniveau für immer mehr Volkswirtschaften untrag wird.
Nach einer mehr als 40 Jahren primär neoliberaler Politik gelangen die monetaristsichen Konzepte an ihr Ende. Ihre Fortführung würde die Ausweitung der Massenarmut bedeuten – ohne neue Jobwunder.
Ab 2020: Anstieg im Rahmen der Pandemie
Die deutsche Volkswirtschaft bewegte sich seit Winter 2019/20 in einen Abschwung hinein. Entsprechend verschlechterten sich die Arbeitsmarktindikatoren bereits vor der Corona-Krise. Mit dieser entstand ein deutlicher Einbruch, der sich ab Frühjahr 2020 deutlich in der Statistik zeigte. Insgesamt stieg die Anzahl der Arbeitslosen um ca. 430.000 bis Ende 2020. Allerdings unterzeichnen diese Daten das Ausmaß des Einbruchs deutlich. Parallel zur Arbeitslosigkeit stieg die Anzahl der Menschen mit Kurzarbeitergeld – eine Stützungsmaßnahme der Bundesregierung.
Quellen für Statistik Arbeitsmarkt
Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.): Zeitreihe zur Arbeitslosigkeit seit 1950 nach Strukturmerkmalen.
IAB (Hrsg.): Zeitreihe – Daten Arbeitszeiten 1991 – 2020; Nürnberg: 2021.
IAB (Hrsg.): Durchschnittliche Arbeitszeit der beschäftigten Arbeitnehmer und ihre Komponenten 1970 – 2017; Nürnberg: 2018.
Sippel, Lilli: Zuwanderungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945 bis 1990. Vertriebene und Flüchtlinge, Gastarbeiter und ihre Familien; Online-Handbuch Demografie des Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2009.
Sozialpolitik aktuell (Hrsg.): Datensammlung Arbeitsmarkt; Universität Duisburg Lehrstuhl Prof. Dr. Gerhard Bäcker.
Kunstwerk des Eintrages
François-André Vincent (1746 – 1816) – La Leçon de Labourage (Lizenz: Gemeinfrei)
Ein wunderschönes Bild in physiokratischer Lehre. Ein Landwirt – ganz im Stile der älteren emblematischen Symbolisierung von “Labor” und mit Handstellung des Schöpfers in Michelangelos “Erschaffung Adams” – unterrichtet einen Knaben aus der sterilen Klasse in der Führung eines Pfluges, den allein die Vertreter der produktiven Klasse – der Landwirtschaft – wirklich zu führen wissen.
Prof. Klaus Türk – Archiv Bilder der Arbeit

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