Atomarer Irrglauben Ewiggestriger

Atomare (Ab)Rüstung ist (neben Corona 🙂 ) wieder angesagt: Im Vorfeld der NPT-Überprüfungskonferenz 2020 wird die Kernwaffenrüstung aufgerufen; die Unterschriftensammlung zum Abzug der US-Atombomben aus Büchel läuft; die Macron-Initiative auf der MSC hat die Diskussion um eine „deutsche Bombe“ angeheizt …

Ein einleitender Verweis auf die “Schimäre!”, bietet die Möglichkeit für ergänzende Bemerkungen zur sachkundigen Besprechung von Wolfgang Schwarz über „Die Bombe und die Renitenz des SAC“ (Blättchen 6/20) zum neuen Buch von Fred Kaplan.

Eine meiner Kernthesen: „Die Führung eines Nuklearkrieges war und ist nicht im Interesse eines Staates, der über Kernwaffen verfügt. Eine direkte ‚aktive Nuklearkriegsbedrohung‘ bei praktischer Vorbereitung eines atomaren Angriffskrieges war bislang kein Ziel irgendeiner Staatsführung.“

Was hat Kaplan nun vorgelegt? Eine weitere detaillierte, anekdotisch angereicherte Erzählung über die Abgründe und „fake news“ des Kalten Nuklearkrieges oder ein hinüberschleppen von Argumentationsmustern Ewiggestriger ins 21. Jahrhundert. In unserer Verehrung für den Politikstrategen Egon Bahr und im Nachdenken über das vergangene Jahrhundert, ein Zitat zur Rolle der Atomwaffen:

„Man will mit den Waffen nicht mehr drohen, aber sie behalten. Die Abschreckung hat ihren Schrecken verloren, aber existiert weiter. Die Waffen sind Macht-Attribute, auf die ihre Besitzer nicht verzichten wollen. Amerika, Russland, China, Großbritannien und Frankreich folgen dem Diktum de Gaulles, dass die Verfügung über Atomwaffen der letzte Ausdruck der Souveränität eines Staates ist, mit keinem anderen zu teilen, auch nicht mit dem besten Freund. Das wird so bleiben, solange es Atomwaffen gibt.“

1987 bekannte Helmut Schmidt, die NATO-Strategie mit dem atomaren Ersteinsatz gegen einen konventionellen Angriff aus dem Osten sei nicht überholt, sondern Unsinn. Diese Strategie habe ihn nie überzeugt. Acht Jahre früher kam Kissinger zu einem ähnlichen Ergebnis: Die USA würden niemals einen Atomschlag gegen die Sowjetunion beginnen, egal, welche Provokationen die Sowjetunion machen würde.

Robert McNamara bekannte, er hätte als Verteidigungsminister ohne Einschränkung empfohlen, unter keinen Umständen mit dem Gebrauch von Atomwaffen zu beginnen: ‚Ich konnte keine öffentliche Diskussion beginnen, weil sie der beschlossenen NATO-Politik widersprechen würde.‘

Den gefährlichen Unsinn gibt es heute noch, inzwischen ergänzt durch die neue unsinnige russische Überlegung, der NATO ähnlich das Recht zum vielleicht sogar frühen Ersteinsatz im Fall der Fälle ankündigen zu wollen. Man kann eine hohe Summe wetten, dass Politiker und Generale der Gegenwart wie in der Vergangenheit denken und ihre Einsicht erst nach Rücktritt oder im Ruhestand verkünden werden. Aber auszurotten ist der Unsinn nicht. Keine öffentliche Diskussion über die nicht einsetzbaren Atomwaffen wird daran etwas ändern.“ (Bahr 2000, S. 54f.)

Und nun diese tolle Enthüllungsstory des Journalisten F. Kaplan: Die US-Präsidenten und ihre Verteidigungsminister hatten die Entscheidungsgewalt über die strategischen Kernwaffen, kannten aber die Einsatzgrundsätze nicht. Ihre Doktrinen waren Fiktion. Das „Kleingedruckte“ wurde von ihnen nicht gelesen Die SAC-Bürokratie und zweitrangige Offiziere waren keiner Kontrolle unterworfen. Im wahrsten Sinne des Wortes – unglaublich! Hier ist kritische Distanz angesagt.

Zielführende Forschungsfragen bleiben weiterhin offen: Warum hat es seit 75 Jahren keinen Nuklearkrieg gegeben? Was waren für diese Nichtführung (!) eines atomaren Angriffskrieges die widersprüchlich dominanten, gesamtzivilisatorischen Verhinderungsfaktoren? Wie könnten diese Verhinderungsfaktoren (!) eines Atomkrieges in Rüstungsbegrenzung und Abrüstung münden?

  • Wolfgang Schwarz antwortet:

26. März 2020

Der erste einheitliche nukleare Einsatzplan der USA – SIOP 62 – war von der Kennedy-Administration abgesegnet. Kaplans Urteil – „ein nuklearer Erstschlagsplan“, also gedacht für einen Angriffskrieg.

Kaplans Buch belegt, dass es in den USA in der obersten Militärführung seit Ende der 1940er Jahre praktisch durchgängig, aber auch im Bereich des Nationalen Sicherheitsrates immer wieder treibende Kräfte gegeben hat, die nach nuklearen Einsatzoptionen drängten. Das ist auch in der Trump-Administration der Fall.

Erst im Februar 2020 hat der NATO-Oberbefehlshaber Europa (SACEUR), der US-General Tod D. Wolters, in einem Hearing des Streitkräfteausschusses des US-Senats frank und frei bekannt, er sei „Fan“ eines flexiblen Ersteinsatzes von Kernwaffen. Und in der März-Ausgabe von „Europäische Sicherheit & Technik“ ist ein Beitrag von Sidney Dean „Rückkehr des begrenzten Atomkrieges. Washingtons umstrittene Kernwaffenstrategie“ betitelt.

Bei Lutz Kleinwächter sind solche Fakten und Vorgänge allesamt starke Indizien dafür, dass die Bedrohung der Menschheit durch einen Nuklearkrieg immer eine Schimäre war, ist und, wenn ich extrapolieren darf, bleiben wird. Wer das nicht versteht, macht sich, so Kleinwächters Formulierung, des „Hinüberschleppen(s) von Argumentationsmustern Ewiggestriger ins 21. Jahrhundert“ schuldig.

Eine, nun ja, zumindest eigentümliche Gedankenführung.

Quellenangabe

Bahr, Egon (2000): Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik. München: Siedler.


Der Kommentar sowie die Antwort von Wolfgang Schwarz sind Beiträge aus dem Forum im „Das Blättchen“. Anlass war ein Beitrag von Wolfgang Schwarz über Kaplan, Fred (2020): The bomb. Presidents, generals, and the secret history of nuclear war. New York: Simon & Schuster.


Bildrechte

Bild (Startbild): Propagandistische Darstellung eines Nuklearangriffs auf die USA durch ein sowjetischen U-Boot. Mit solchen Bildern erhielten beide Seite in der Systemkonfrontation ihre Bedrohungsszenarien lebendig. Ihre Wirkung verfehlen sie bis heute nicht. Titel: Soviet submarine launches a SS-NX-24 cruise missile. Quelle: US Government Printing Office (Hg.) (1986): Soviet Military Power. 1986. Washington DC (Soviet Military Power, 5); S. 36.

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