Zur Macron-Initiative für einen strategischen EU-Dialog
Der Februar des Jahres 2020 geht in die historischen Annalen der Nuklearpolitik ein. Frankreichs Präsident Macron nutzte die Tribüne der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) für eine konzeptionelle Grundsatzrede und forderte erneut – besonders mit Blick auf Deutschland – einen multilateralen strategischen Dialog der Partner der Europäischen Union (EU) über eine eigene Verteidigung, inklusive französischer Kernwaffen und nuklearer Rüstungsbegrenzung.
Die diesjährige MSC stand unter dem bedrückenden Omen „Westlessness“. Der Munich Security Report (Ischinger 2020) beginnt mit einem Bezug auf Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (Spengler 1923) Nach 100 Jahren wären wir jetzt in einer Situation, wo der Westen erodiert und der Osten aufsteigt. Damit gab der MSC-Leiter Wolfgang Ischinger dem US-Außenminister Mike Pompeo eine unnötige Vorlage für seine arrogante Verhöhnung der Kleinmütigkeit europäischer Partner.
Diese vereinfachten, fast schon primitiven Aufstiegs- und Abstiegsszenarien, oftmals als „Nullsummenspiele“ missverstanden, entsprechen in einer multipolar vernetzten Welt eben nicht der Realität. Eher scheint eine Vorstellung „kommunizierender Röhren“ richtungsweisend. Außerdem ist trotz ernsthafter Problemlagen der Zivilisationsstandard in den westlichen Zentren Nordamerika und Europäische Union so hochentwickelt wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. (Vgl. Kleinwächter und Kleinwächter 2019)
Von solchem Wohlstand träumt die große Mehrheit der Erdbevölkerung und würde gern an einem solchen „Untergang“ in ihren Ländern teilhaben. Das Klagen auf der MSC war programmiert. Das Kritisieren, das wenig Analytische, Verlust- und Bedrohungsphobien, Krisenängste sowie wechselseitige rüde Schuldzuweisungen dominierten die Beiträge. Überdeutlich wurden die innerimperialen globalen Widersprüche sowie die nationalen und zum Teil nationalistischen Interessen der großen Mächte – USA, EU, China, Russland. Diese Konferenz war hinter der Zeit zurück und bot kaum Produktives für eine Verständigung, geschweige denn Kooperation.
Frankreichs Initiative
Im erfrischenden Gegensatz zur defätistischen, althergebrachten Grundhaltung von Teilen der deutschen Ministerelite brillierte der französische Präsident Emmanuel Macron mit anregenden Vorschlägen. Anknüpfend an seine Strategierede vom 7. Februar 2020 (Emmanuel 2020) legte er auf der MSC am 15. Februar nach und verstärkte französische Vorstellungen für die Gestaltung einer eigenständigen Verteidigungspolitik der Europäischen Union. In der Tradition Charles de Gaulles betonte er dabei das konzeptionelle Fundament von Multilateralismus, Partnerschaft, europäischer Autonomie und nationaler Souveränität. Macrons Forderung nach Schaffung einer „europäischen strategischen Kultur“ verdeutlicht seine Orientierung auf die schrittweise Abkopplung der EU von den USA bei höherer Gewichtung Frankreichs im europäischen Bündnis. Frankreich will mit seinen EU-Partnern in einen „strategischen Dialog“ über die Abschreckungsfunktion der französischen Kernwaffen eintreten und interessierte Partner „könnten eingebunden werden in Manöverübungen der französischen Nuklearstreitkräfte.“ Die französische Force de frappe soll künftig auch dem Schutz der EU dienen.
Eine Beteiligung an nuklearen Entscheidungsbefugnissen Frankreichs schloss er jedoch aus. Ebenso wird sich Frankreich weiterhin nicht an der Nuklearen Planungsgruppe der NATO beteiligen. Macron bekräftige, dass sich Frankreich als Mitglied des UNSicherheitsrates für die Stärkung des Regimes der Nichtweiterverbreitung einsetzt und bereit ist, „seine Verantwortung zu übernehmen, wenn es zur nuklearen Abrüstung kommt“. Er verweist auf die Eliminierung der landgestützten Raketenkernwaffen, der Testeinrichtungen und die Verminderung der Zahl der Kernsprengköpfe auf 300 durch Frankreich. Die französische nukleare Abschreckung wird auf einem Niveau „strikter Suffizienz“ gehalten.
Die europäischen Führungseliten stehen vor einer Neubewertung wechselseitiger Pseudo-Axiome des Kalten Krieges: US-Atomschirm gegen Russland, NATO respektive Warschauer Vertrag als einzigartige Friedensmächte, Bedrohungs- und Aggressions-Unterstellungen. Auch dabei ist Macron Wegbereiter, wenn er weder in Russland noch in China Gegner der NATO sieht, wie er es in einem Treffen mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 28. November 2019 verdeutlichte, und in München die Sanktionen gegenüber Russland infrage stellt und „eine europäische und nicht nur eine transatlantische Politik gegenüber Russland“ einfordert. Vertrauensbildung mit Russland ist aus seiner Sicht ein Element der gemeinsamen Sicherheit.
Historische Reminiszenzen
Der Rüstungswettlauf im Bereich der Raketen-Kernwaffen hatte seine Initialzündung im faschistischen Deutschland. Mit der 1939 begonnenen Entwicklung und dem Masseneinsatz von V2-Raketen ab 1944 sowie einer beschleunigten Kernwaffenforschung („Uranprojekt“) bestand die reale Gefahr einer Realisierung deutscher Raketenkernwaffen mit unvorhersehbaren Folgen für den weiteren Kriegsverlauf.
Zeitnah liefen ab 1942 das US-„Manhattan-Projekt“ und sowjetische Programme zur Entwicklung von Kernwaffen. Mit der Kapitulation Deutschlands wurden die Raketen- und Kernwaffentechnologien sowie zahlreiche deutsche Wissenschaftler „nutzbringend“ in die US-amerikanischen und sowjetischen Raketen- und Kernwaffenprogramme integriert. Der US-Einsatz von Atombomben gegen Hiroshima und Nagasaki in der Endphase des Weltkrieges eröffnete ein jahrzehntelanges nukleares Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion und prägte den Kalten Krieg.
In der Nachkriegssituation war jegliche Nuklear- und Raketenforschung in den deutschen Besatzungszonen verboten. Auch nach Bildung beider deutscher Staaten untersagten die Siegermächte entsprechende Aktivitäten. In Vorbereitung zum Beitritt der Bundesrepublik zur Westeuropäischen Union erklärte Kanzler Konrad Adenauer 1952 und 1954, dass „die Bundesrepublik sich verpflichtet, keine atomaren, chemischen oder biologischen Waffen auf ihrem Gebiet herzustellen“. In den Pariser Verträgen von 1955 verzichtete die Bundesrepublik dann auf ABC-Waffen. Das NATO-Mitglied Frankreich betrieb nach tiefen Enttäuschungen über die US-amerikanische Entsolidarisierung während der Indochina- und Suezkriege ab 1954 den Aufbau einer unabhängigen Kernwaffenstreitmacht und verließ nach Zielerreichung 1966 (bis 2009) die militärische NATO-Struktur. (Vgl. Kleinwächter 2018)
Den multilateralen Verträgen über das teilweise Verbot von Kernwaffentests (1963) und über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (1968) stand Frankreich zunächst kritisch gegenüber, trat aber 1991/92 dem Nichtweiterverbreitungsvertrag und 1996/98 dem umfassenden Teststoppabkommen bei. Die beiden deutschen Staaten traten den Verträgen bei und bekräftigen dieses Verbotsregime 1990 im Zwei-plus-Vier-Vertrag.
Deutsche Absurdität
Die EU hat die Möglichkeit, eine moderne Großmacht in einer multipolaren Weltordnung zu werden. Wesentliche Teile der deutschen Führungselite haben jedoch die Neuzeit noch nicht begriffen und hängen Machtvorstellungen des Kalten Krieges an. Das geht einher mit einer Renaissance des nuklearen Militarismus.
Mit der Regierungsübernahme durch Trump, seiner verstärkten „America-First“-Politik, zunehmenden Zweifeln am Sinn der NATO und ihrer Beistandsklausel sowie einer Verstärkung konfrontativer Züge in der US-Außenwirtschaftspolitik haben sich die Beziehungen zwischen den USA und der Europäischen Union deutlich zugespitzt. Absurderweise ist in Deutschland eine Gemengelage von transatlantischen Politikern und neokonservativen Wissenschaftlern zu konstatieren, die überproportionalen Einfluss sowie Medienresonanz erhalten und eine militärische Nuklearpolitik pro USA (mehrheitlich Regierungsmitglieder) oder mit dem „Ruf nach der Bombe“ eine eigenständig deutsche (Christian Hacke, Roderich Kiesewetter, Johann Wadepuhl) einfordern.
Es geht für Deutschland jedoch, wenn wir den strategischen Denker Egon Bahr zu Rate ziehen, um eine „klare und bewusste Politik eines nichtatomaren Staates, der die Interessen aller anderen nichtatomaren Staaten teilt. […] Deutschland erstrebt eine umfassende Verflechtung seiner Außen- und Sicherheitspolitik mit Frankreich. Sie soll in der Überzeugung vorgenommen werden, dass sie am schnellsten in der Lage ist, zum Kern eines handlungsfähigen Europas in einer multipolaren Welt zu werden.“ (Bahr 2000, S. S. 58, 145)
Schlussfolgerungen
Angesichts der Gesamtentwicklungen in der nuklearen Ära seit 1945 sowie der historischen Verantwortung und der Interessenlage ergeben sich für Deutschland im Rahmen der EU folgende militärpolitische Orientierungen:
(1) Aufrechterhaltung einer Politik der militärischen und zivil-energetischen Denuklearisierung Deutschlands. Dabei geht es um eine nachdrückliche Bekräftigung des Verzichts auf den Erwerb von Kernwaffen entsprechend dem Nichtweiterverbreitungsvertrag von 1968 sowie dem Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990. Beispielhaft für einen großen Industriestaat wäre es, den Ausstieg aus der zivilen Atomkraft bis 2022 umzusetzen. Die „nukleare Teilhabe“ im NATO-Rahmen ist aufzugeben und nachdrücklich ein Abzug der US-amerikanischen Nuklearwaffen aus Deutschland einzufordern.
(2) Aufnahme des von Frankreich vorgeschlagenen EU-Dialogs über multilaterale strategische Stabilität. Dabei geht es insbesondere um die gemeinsame Entwicklung einer dauerhaften Trinität von Vertrauensbildung, nuklearer Rüstungsbegrenzung und Abrüstung sowie „Suffizienz“ im Sinne einer Minimalabschreckung. Russland ist bei der Ausgestaltung dieser Politik als Partner einzubeziehen.
(3) Schaffung einer eigenständigen EU-Programmatik über konventionelle Rüstungsbegrenzung und Abrüstung unter Nutzung des OSZE-Rahmens. Eine militärische Kooperation im Sinne der Schaffung einer Armee der EU-Staaten ist nur bei strikter Aufrechterhaltung der nationalen Hoheit bei Einsatzentscheidungen der Teilkontingente zu gewährleisten.
Literaturverzeichnis
Bahr, Egon (2000): Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik. München: Siedler.
Ischinger, Wolfgang (Hg.) (2020): Munich Security Report 2020. Westlessness. Müncher Sicherheitskonferenz. München.
Emmanuel, Macron (2020): Rede des französischen Staatspräsidenten zur Verteidigungs- und atomaren Abschreckungsstrategie. École de guerre. Paris, 07.02.2020.
Kleinwächter, Lutz (2018): Bedrohung durch Atomkrieg? Eine Schimäre. zeitgedanken.blog. Potsdam.
Kleinwächter, Lutz; Kleinwächter, Kai (2019): Deutschland in EurAsien. Aspekte einer Strategie im multipolaren Zeitalter. In: Raimund Krämer (Hg.): Zwischen Kooperation und Konkurrenz. Europa und Asien im 21. Jahrhundert. Potsdam: WeltTrends, S. 103–121.
Spengler, Oswald (1923): Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. 1973. Aufl. München: C. H. Beck.
Der Artikel erschien 2020 zuerst in WeltTrends – Das außenpolitische Journal Nr. 162 „Kernwaffen außer Kontrolle?“ . Sie ist auch als PDF verfügbar. Eine ausführliche Besprechung des Heftes findet sich auf den Seiten von Sputnik Deutschland.
Bildrechte
Bild (Startbild): Rede Emmanuel Macron auf der Müncher Sicherheitskonferenz 15.02.2020. Autor: MSC / Kuhlmann Lizenz: Bilder zur publizistischen Verwendung unter Nennung der jeweiligen Bildquelle.
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2 Gedanken zu “Europäische Dimension der Force de frappe”