Derzeitige Aktualisierung: April 2019
Erste Fassung: Sommer 2017
Im April 2017 gewann die AKP-Regierung den Volksentscheid zur Verfassungsänderung. Ziel war die Errichtung eines Präsidialsystems, die weitgehende Zentralisierung des Staates durch eine Stärkung der exekutiven Macht des Staatsapparates. Dafür sollen sowohl die Selbstständigkeit der Justiz als auch die Unabhängigkeit des Parlamentes begrenzt werden. Die AKP hofft so auf eine direkte, autoritäre Durchsetzungsfähigkeit ihrer Politik.
Der knappe Wahlausgang – eine hauchdünne Mehrheit von 1,4 Prozent entschied über den Sieg – verdeutlicht die tiefe politische Spaltung der Türkei. Strukturelle Mehrheiten gibt es auf keiner Seite. Hintergrund sind gesellschaftlichen Veränderungen: Die seit fast einem Jahrhundert anhaltende demographische und wirtschaftliche Expansion kommt an ihr Ende. Die jetzige Gesellschaftsordnung steht in Frage.
1. Entwicklung der Bevölkerung
Seit der ersten Volkszählung im Jahr 1927 stieg die Anzahl der Einwohner der Türkei von rund 14 Millionen auf geschätzt 81 Millionen im Jahr 2017. Diese Volkszählungen erfassen nicht die in der Türkei Schutz suchenden Flüchtlinge. Laut Schätzung des UN Flüchtlingshilfswerkes (UNHCR) leben 2017 in der Türkei ca. 3.1 Mio. Flüchtling – vor allem aus Syrien. Angesichts des anhaltenden Bürgerkrieges werden viele dauerhaft bleiben. Mit ihnen hat die Türkei bereits jetzt mehr Einwohner als Deutschland.
Die seit 100 Jahren anhaltende Zunahme der Bevölkerung beruht auf stabil hohen Geburtenraten und dem Ausbleiben demographischer Krisen. Außer in den 1940er Jahren wuchs die Bevölkerung seit den 1920er Jahren mit über zwei Prozent pro Jahr. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts schwächte sich die Zunahme deutlich ab.[1] Ohne Berücksichtigung der Zuwanderung wächst die Bevölkerung der Türkeit inzwischen nur noch mit ca. 1,2 Prozent im Jahr. Die Geburtenhäufigkeit sank von fast sieben Kindern pro Frau in den 1950er Jahren auf gegenwärtig ca. 2,1. Auf Grund der höheren Kindersterblichkeit als in den Industriestaaten, liegt dieser Wert bereits unter dem Reproduktionserhalt. (Quellen: UN Population Division – World Population Prospect)
Die türkische Bevölkerung wächst nicht mehr durch Geburten als solche – sondern durch den hohen Anteil an jungen Menschen unter 20 Jahren. Er liegt bei ca. 34 Prozent. Ein typisches Anzeichen für eine neue demographische Phase. Die Türkei ähnelt aus dieser Perspektive Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts. Ähnlich wie damals Deutschland, wird die türkische Bevölkerung mit abnehmender Geschwindigkeit noch 30 bis 50 Jahre weiter wachsen. Entsprechend prognostiziert mit circa 108 Millionen Einwohnern.[2]
Die demographische Dynamik der letzten Jahrzehnte wird es nicht mehr geben. Die Türkei wird wie Europa langsam altern. Die Bedürfnisstrukturen der Bevölkerung beginnen sich deutlich zu wandeln. Gleichzeitig endet auch eine der wesentlichen Stützen des bisherigen Wirtschaftswachstums. Steigende Bevölkerungszahlen bedeuteten mehr Nachfrage. Diese stimulierten (ausländische) Investitionen und schufen so die ökonomische Basis für eine weitere demographische Expansion. Auf beide Herausforderungen – den Ausfal der ökonomischen Selbststabilisierung sowie den sich wandelnden Bedürfisstrukturen – sind weder die türkische Gesellschaft noch der Staatsapparat vorbereitet.
2. Wachsender Wohlstand seit Jahrzehnten
Das Wachstum der türkischen Bevölkerung ging bisher mit einer Steigerung des Wohlstandes einher. Ausnahmen waren die Stagnationsphasen in der zweiten Hälfte der 1970er sowie der 1990er Jahre. Aber selbst mit diesen Krisenzeiten nahm die Wirtschaftsleistung pro Einwohner seit 1960 durchschnittlich um 2,6 Prozent pro Jahr zu. Gemessen in konstanten Preisen von 2010 entspricht das fast einer Verfünfachung der wirtschaftlichen Leistung von ca. 3.200 US-$ pro Einwohner auf 14.000 US-$ im Jahr 2016. Dahinter steht, neben der Ausweitung des Konsums, eine systematische Modernisierung der gesamten Gesellschaft. Beispielsweise stieg die Alphabetisierungsrate von ca. 19 Prozent im Jahr 1935, auf das Niveau heutiger Industriestaaten von mehr als 95 Prozent.
Damit erreicht die Türkei eine vergleichbare Wirtschaftsleistung wie Russland und Brasilien und liegt deutlich vor seinen Nachbarn. Aber ein Vergleich mit hochentwickelten Staaten, z.B. Deutschland zeigt, wie weit der Weg noch ist. Die Wirtschaftskraft pro Einwohner lag in (West-)Deutschland bereits in den 1950er Jahre auf dem Niveau der heutigen Türkei – nach einer fast 30-jährigen Stagnation in Folge (verlorener) Weltkriege und Wirtschaftskrisen. Gegenwärtig erwirtschaftet Deutschland etwas über 45.000 US-$. Gemessen an dieser Wirtschaftskraft pro Einwohner hat die Türkei einen Rückstand von über einem halben Jahrhundert.
Gesellschaftliche Alternativen
Ähnlich wie Europa vor 100 Jahren steht die Türkei an einem Scheideweg. Das bisher (erfolgreiche) extensive Wirtschaftswachstum – durch eine Ausdehnung der Bevölkerung und der extensiven Bodennutzung durch innere Landnahme – kann nur noch begrenzt fortgeführt werden. Die noch junge Bevölkerung fordert angesichts hoher sozialer Polarisierung und verhältnismäßig geringem (Massen-)Wohlstands eine Steigerung der ökonomischen Leistungskraft.
Die türkischen Eliten müssen sich entscheiden: Beibehaltung des beschränkten extensiven Modells oder Übergang zu einer primär (wissens-)intensiven Wirtschaft. Letzteres bedeutet die Gestaltung einer neuen Gesellschaft. Die kleinen, etablierten Eliten- und Rentierzirkel verlieren in dieser an Macht zugunsten einer aufstrebenden, breiten Mittelschicht. Damit verbunden wäre notwendigerweise eine umfassende wirtschaftliche und politische Partizipation der Massen sowie wachsende sozio-kulturelle Ausdifferenzierungen der Gesellschaft inklusive einer Emanzipation der ethnischen Minderheiten.
Eine Stabilisierung solcher (post-)industrieller Gesellschaften gelingt nur bei wachsenden Masseneinkommen unterstützt durch einen Sozialstaat, gepaart mit ökonomischer und politischer Stabilität. Grundlage dafür sind vor allem ein (Massen-)Bildungssystem, realitätsnahe volksnahe Diskursplattformen, eine effiziente und von einseitiger Einflussnahme geschützten Verwaltung sowie eine Ausweitung der ökonomischen und politischen Freiheiten.
Türkische Entscheidung
Die derzeitige Türkei ist in diesen Bereichen durch krasse Widersprüche geprägt. Einerseits hat die AKP durch umfassende innere Reformen der Wirtschaft sowie einer Öffnung für die internationalen Märkte eine innere Rationalisierung ermöglicht. Staatsfinanzen, Bildungssystem und Bürokratie konnten, bei allen Problemen, mithalten bzw. die Entwicklung unterstützen. Aber in den letzten Jahren zeigen sich Grenzen des Prozesses. Der Ausbau der Türkei als Energiedrehscheibe, Bestrebungen die Bevölkerungsgröße auszuweiten bzw. die ethnische Zusammensetzung zu verändern sowie die Versuche territorialer Ausdehnung, weisen in Richtung des überholten extensiven Wirtschaftsmodells. Ebenfalls werden der Nationalismus angefacht und die Schuldigen für Probleme bei ethnischen Minderheiten gesucht.
Die türkische Regierung sollte ernsthaft in die Geschichte Europas schauen. Dieses stand an der Wende zum 20. Jahrhundert vor einer ähnlichen Entscheidung. Damals versuchten reaktionäre Kräfte, Adels und Kirchenkreise aber auch (industrielle) Rentiers die überkommenen Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen zu konservieren. Das schlug sich in innerer Repression, Versuchen militärischer Expansion sowie Wirtschaftskrisen nieder. Spätestens ab den 1930er Jahren setzten sich totalitäre Strömungen durch, die mit Slogans der Vergangenheit antraten, aber den Weg in die neue Zeit bereiteten. Nicht durch positive Erneuerung sondern durch so umfassende Gewalt auch gegen Teile der alten Eliten und katastrophale militärische Niederlagen, dass von der alten Gesellschaft kaum etwas blieb.
Neuer Konsens gefordert
Ohne die Bereitschaft der etablierten Eliten mit den neuen sozialen Gruppen die politische Macht zu teilen, droht eine Blockade der Gesellschaft. Die alten Eliten halten sich dann zwar an Macht, können aber das Land nicht mehr entwickeln. Es droht Massenelend. Ein Bürgerkrieg ist nicht auszuschließen. Die opferreichen Kämpfe des letzten Jahres um die „Kurdenstädte“ im Süden der Türkei könnten hier ein Menetekel sein.
Die AKP und mit ihr verbündeten konservative Eliten haben in der Volksabstimmung ihren politischen Willen erst mal durchgesetzt. Aber die Grenzen ihres Einflusses wurden mehr als deutlich. Trotz massiver Manipulation der Presse, trotz Einschüchterung der Opposition und extrem nationalistischer Propaganda reichte es nur für eine äußerst knappe Mehrheit.
Für das türkische Volk bleibt zu hoffen, dass die „Sieger“ einen neuen, tragfähigen Kompromiss anstreben. Es wird ein schmerzhafter Prozess, den die Türkei alleine durchschreiten muss. Für das führende muslimische Land kann der Westen (mit seinen Ratschlägen) nur bedingt Vorbild sein. Die Türkei muss ihre eigene Vorstellung der Moderne entwickeln. Die 800-jährige wechselvolle Geschichte zeigte, dass die türkische Gesellschaft auch zu einer radikalen Modernisierung in der Lage ist.
Nachtrag 16.07.2018
Am 24. Juni 2018 gewann Erdogan mit 52,59 Prozent der Stimmen die Präsidentschaftswahlen. In der parallel stattfindenen Wahl des Parlaments, erreichte die Wahlallianz der AKP (zusammen mit der Partei der nationalistischen Bewegung) die absolute Mehrheit. Das zeigt, dass die AKP nachwievor eine Mehrheit der türkischen Bevölkerung hinter sich vereinen kann. Die AKP bzw. Erdogan können ihren politischen Kurs inklusive der autoritäreren Elemente fortsetzen.
Allerdings verdeutlicht das Ergebnis auch, dass Erdogans Politik an Grenzen stößt. Angesichts der massiven Einschüchterung der Opposition, Gängelungen der Presse sowie der einigermaßen positiven Wirtschaftslage ist das Ergebnis nicht überwältigend. Im Gegenteil, zunehmend muss sich die Regierung auf radikal-nationalistische Kräfte stützen, um (halbwegs legal) an der Macht zu bleiben.
Die AKP stellt nun die Aufhebung des seit den Putschversuch im Juli 2016 geltenden Ausnahmezustandes in Aussicht. Aber kurz vor dem möglichen Ablauf wurden nochmals mehr als 18.000 Staatsbedienstete per Notstandsdekret entlassen. Die Botschaft ist eindeutig.
Fußnoten
[1]Vgl. Turkish Statistical Institute (Hrsg.): Statistical Indicators 1923 – 2013; Ankara 2014; S. 5.
[2] In den letzten Jahren hob das türkische Statistikamt die Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung deutlich an. Noch 2013 schätzte sie den wahrscheinlichsten demographischen Höhepunkt um das Jahr 2050 auf ca. 93 Mio. Menschen. In der neuesten Prognose von 2018 geht sie im Basisszenario von einem Wachstum bis ins Jahr 2068 aus. Dann sollen in der Türkei ca. 108 Mio. Einwohner leben. Dahinter steht vor allem die Annahme, dass ein Großteil der Flüchtlinge/Einwanderer aus den arabischen Raum im Land bleibt. Diese Ethnien weisen eine höhere Geburtenrate auf und würden den demographischen Wandel möglicherweise deutlich hinausschieben. Ebenfalls betreibt die Türkei Anstrengungen zur Erhöhung der Kinderzahl – sowohl höhere soziale Leistungen als auch religiös-konservative Kampagnen (insb. gegen Abtreibungen sowie für eine Herabsetzungen des Heiratsalters). Offiziel soll diese Politik erfolgreich sein. In den langfristigen Statistiken ist sie aber (noch) nicht sichtbar.
Kunstwerk des Eintrages
Anton Alexander von Werner (1943 – 1915) – Der Kongreß zu Berlin – Schlußsitzung am 13. Juli 1878
Lizenz: Gemeinfrei
Der Berliner Kongress von 1878 als auch die Berliner Konferenz von 1884/85 (Kongokonferenz) waren Höhepunkte der Bismarckschen Balancepolitik. Bei beiden gelang es, durch diplomatischen Aushandlung militärische Konfrontationen zwischen den europäischen Hauptmächten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich-Ungarn, Russland) zu vermeiden bzw. einzudämmen. Das Gleichgewicht der Kräfte konnte nicht nur fortgeführt, sondern die zenral-europäische Einflußsphäre auf Kosten schwächerer Staaten bzw. Kontinente sogar ausgedehnt werden.
Da es selbst keine territorialen Ansprüche erhob, konnte das deutsche Reich als „neutraler“ Mittler, auf diesem Weg seine eigenen Interessen, insbesondere die Isolation Frankreichs, Stärkung der deutschen Einheit sowie den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen, durchsetzen.
Während in der Kongokonferenz die Aufteilung Afrikas beschlossen wurde, leitete der Berliner Kongress die Zerteilung des Osmanischen Reiches ein. (Barraclough S. 726) Ehemalige Provinzen wie Bulgarien, Rumänien und Serbien wurden selbstständige Staaten. Teilweise blieben sie aber dem Osmanischen Reich tributpflicht. Ein Zugeständnis, um das Gesicht des Sultans zu wahren, „während er die tatsächliche Herrschaft bereits verloren hatte.“ Das Osmanische Reich wurde noch gebraucht. Es sollte „als kranker Mann am Bosporus“ das Gleichgewicht der Mächte weiter stabilisieren. So konnte vor allem der Einfluß Russland im Balkan und Kaukasus beschränkt sowie sein „Durchbruch“ zum Mittelmeer verhindert werden.
Allerdings zeigten sich bald auch die Grenzen einer solchen Politik.
1. „Kleine Sieger“ wie Russland aber auch die Balkanstaaten (Serbien, Rumänien und Bulgarien) waren von den Ergebnissen enttäuscht. Die territoriale Aufteilung entsprach nicht ihren Vorstellungen. In Folge ringen diese Staaten bis in die Gegenwart um Grenzfragen und Einflußsphären. Die europäischen Großstaaten nutz(t)en diese Rivalität ihrerseits für eine dezidierte Machtpolitik. Der Balkan wurde balkanisiert.
2. Diese dauerhaften Interessengegensätze verschlechterten die Beziehungen zwischen den Großstaaten. Die Fürstenhäuser hatten auf Grund der inner-staatlichen Prozesse ihre alleinige Kontrolle der Außenpolitik verloren. Die Zeit der Kabinetts-Politik war zu Ende. Allerdings gelang es nicht alternative Mechanismen der Konfliktbewältigung aufzubauen.
3. Die Ausdehnung der Konflikte begünstigten den weiteren Niedergang der peripheren Staaten. Insbesondere das Osmanischen Reiches zerfiel zusehends bzw. immer mehr seiner Provinzen wurden von den europäischen Mächten besetzt. Entsprechend setzte es die vom Berliner Kongress geforderten Schutz der ethnischen Minderheiten in seinem Territorium nie um. Traurige Folge waren u.a. die Massaker an den Armeniern.
Die entdlosen Konflikte beschleunigten die Auflösung des europäischen Mächtegleichgewichtes. Während Frankreich und Großbritannien in eine zunehmende Gegnerschaft zum Osmanischen Reich gerieten, unterstützte das Deutsche Reich die Türken. Allmählich bildete sich die Frontstellung des I. Weltkrieges heraus.
Quellen
Barraclough, Geoffrey: Europäisches Gleichgewicht und Imperialismus; in Mann, Golo; Nitschke, August (Hrsg.): Propyläen Weltgeschichte – Eine Universalgeschichte; Berlin: Ullstein Verlag Band 8 1991, S. 703-742, hier S. 726.
Weitere Informationen zum Urheberrecht unter Kontakt/Impressum/Lizenz.
Bei Interesse können die statistischen Daten für die Grafiken per Mail zugesandt werden.
https://orcid.org/0000-0002-3927-6245