Am 19. Januar 2023 in Guben richtete das kommunalpolitischen Forum Land Brandenburg e.V. eine Veranstaltung zu den Ursachen des Ukrainekrieges aus. Vortragender Kai Kleinwächter.
Zu dieser Veranstaltung vier Thesen:
1. Räume der Instabilität
Eine der historischen Ursachen des Ukraine-Krieges liegt im gebrochenen Prozess der Nationenbildung in Osteuropa, Balkan und Kaukasus.
Im 19. Jahrhundert dominierten diese Regionen vier Vielvölkerstaaten – das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und das zaristische Russland. Sie führten einen mit allen Mitteln ausgetragenen Konkurrenzkampf. Die Geostrategie Frankreichs und die „Balancepolitik“ Großbritanniens verschärften diesen zusätzlich. (Beispiel Krimkrieg 1853–1856) Auch die Ideologie des Nationalismus wurde als Waffe eingesetzt. Separationsbewegungen und Aufstände der ethnischen Minderheiten sollten die Gegenseite entscheidend schwächen.

Bis zum Ende des II. Weltkrieges zerfielen die alten Vielvölkerstaaten weitgehend. Allerdings erfolgten die wenigsten Grenzziehungen im Einverständnis der neuen Nationalstaaten. Ihr Einfluss auf die Gestaltung der Versailler-Verträge sowie des Potsdamer-Abkommens war marginal. Bis heute sind diese Regionen durch strittige Grenzfragen, von alten Reichen träumenden Eliten und vielfältigste (nicht-erwünschte) ethnische Minderheiten gekennzeichnet.
„Bei einer historischen Betrachtung der Kriege an der europäischen Peripherie fällt auf, was die jugoslawischen Zerfallskriege, die Kriege im Kaukasus und den jetzigen Krieg in der Ostukraine verbindet: Sie finden alle in einem postimperialen Raum statt, der aus dem Zerfall der alten Großreiche Mittel- und Osteuropas hervorgegangen ist und in dem es nicht zu einer konsolidierten Nationenbildung gekommen ist.“
Prof. Münkler (2015, S. 11)
Die Zeit der Systemkonfrontation fror die Nationen-Frage ein. Die Hauptakteure Sowjetunion und USA hatten kein Interesse an einer Revidierung der Grenzen und/oder an eskalierenden (nationalistischen) Konflikten.
2. Osteuropa – ökonomisch abgehängt
Mit dem Ende des Systemkonfliktes in den 1990er Jahren kam die alte Nationalitätenfrage wieder. Zwei wesentliche Triebkräfte verstärken sie bis heute.
Einerseits kommt es wieder zu einem geostrategischen Ringen diverser Groß- und Mittelmächte, die Osteuropa, den Balkan sowie den Kaukasus als ihre Hinterhöfe betrachten. Die dortigen Staaten werden in den umfassenden und „ewigen“ Machtkämpfen zerrieben.
Andererseits zeigen sich in der wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen massive Probleme. Die dortigen Volkswirtschaften wachsen seit den 2000er Jahren nicht schnell genug. Entsprechend holen sie gegenüber den Volkswirtschaften West- und Nordeuropas nicht auf. Der Lebensstandard bleibt dauerhaft hinter den Kernstaaten der EU zurück.

Ebenfalls führte eine jahrzehntelange neoliberale Politik zu einer massiven sozialen Ungleichheit. Die Mehrheit der Bevölkerung erreicht selbst die niedrigen nationalen Durchschnittswerte nicht. Ihr Lebensstandard liegt unter dem deutschen Wohlstandsniveau der 1990er Jahre. So hat sich Polen im Vergleich zu den meisten anderen Staaten der Region herausragend gut entwickelt. Und trotzdem …
„Das Kreisranking in Polen zeigt, dass der Kontrast zwischen kaufkraftschwachen und -starken Regionen sehr hoch ist. Während nur 82 Kreise eine überdurchschnittliche Pro-Kopf-Kaufkraft aufweisen, ist das verfügbare Nettoeinkommen in 298 Kreisen unter dem Landesdurchschnitt. Ein Vergleich zwischen dem erst- und letztplatzierten Kreis macht die Kaufkraftschere in Polen besonders deutlich: Während die Einwohner des Hauptstadtkreis Warszawa mit einer Pro-Kopf-Kaufkraft von 14.900 Euro 61 Prozent über dem Landesdurchschnitt liegen, hat die Bevölkerung von Kolnenski lediglich 6.179 Euro pro Kopf und damit mehr als 33 Prozent weniger als der durchschnittliche Pole für Ausgaben zur Verfügung. Damit können die Hauptstädter mehr als das 2,4-Fache für Einkäufe, Miete und Strom ausgeben oder sparen.“
Gesellschaft für Konsumforschung (GfK 25.10.2022)
Zum Vergleich Deutschland:
„Unangefochtener Spitzenreiter unter den Bundesländern ist nach wie vor Bayern: Im Freistaat stehen den Einwohnern im Schnitt 26.936 Euro pro Kopf für Ausgaben und zum Sparen zur Verfügung, womit die Kaufkraft der Bayern knapp 9 Prozent über dem Landesdurchschnitt liegt. […] Schlusslicht ist wie im Vorjahr Mecklenburg-Vorpommern, wo den Menschen im Schnitt 21.707 Euro zur Verfügung stehen, was weniger als 88 Prozent des Landesdurchschnitts entspricht.“
Gesellschaft für Konsumforschung (GfK 08.12.2021)
Einige Staaten – wie die Ukraine, Bosnien und Kosovo – schaffen selbst diese Entwicklung nicht. Sie sanken in den letzten 30 Jahren auf das Niveau von 3. Welt-Staaten herab. (Kleinwächter 2022b)
Das wirtschaftliche Zurückbleiben führt zu einer demographischen Stagnation, teilweise sogar zu massiven Rückgängen der Bevölkerung.

3. Polykrise befeuert Konflikte
Derzeitig finden weltweit fundamentale Umbrüche statt. Das Weltwirtschaftsforum in Davos prägte dafür ein neues Wort – polycrisis. (Durden 2023) Im Deutschen ist insbesondere der Begriff „multiple Krisen“ (Brand 2009) gebräuchlich.
„The World Economic Forum’s Global Risks Report 2023 uses the term, to explain how, “present and future risks can also interact with each other to form a ‘polycrisis’ – a cluster of related global risks with compounding effects, such that the overall impact exceeds the sum of each part”“
Simon Torkington (2023)
Diese ineinandergreifenden Umbrüche führen zu umfassenden gesellschaftlichen Krisen in fast allen Volkswirtschaften. An dieser Stelle können nur genannt werden: Relativierung der globalen Hegemonie des Westens (Kleinwächter 2018) bzw. Verschiebung der Weltwirtschaft nach Asien; drohender ökologischer Kollaps; Krise des (neoliberalen) Akkumulationssystems; ein künftiges Ende des weltweiten Bevölkerungswachstums (Kleinwächter 2012) …
Diese Umbrüche führen zu vielfältigen inneren und äußeren Verteilungskonflikten – um globale Hegemonie, zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen gesellschaftlichen Gruppen innerhalb der Volkswirtschaften… In der Ukraine sind diese Konflikte eskaliert.
4. Notwendigkeit des Friedens
Wesentlich für die Eskalation war der Unwillen zentraler (insb. westlicher) Akteure, eine gemeinsame Eindämmung des Konfliktes zu betreiben. Beide Seiten setz(t)en auf Strategien des maximalen Erfolges. Ein Ausgleich wird kaum angestrebt. Frieden lässt sich aber nur erreichen, wenn die multidimensionalen Konflikte gemeinsam angegangen werden. Ziel muss eine gemeinsame Eindämmung und Lösung sein. Aus der Friedensbewegung heraus gibt es dafür eine Vielzahl von Vorschlägen. (Kleinwächter 2022a)
Weitere informative Konferenzbeiträge finden sich auf dem youtube-Kanal des kommunalpolitischen Forum Land Brandenburg e.V.
Ergänzung 17.06.2023
Am 18. Mai 2023 erschien im Neuen Deutschland ein interessanter Artikel von Prof. Hans-Peter Krüger. Hier erfolgt eine thesenartige Reflexion über den Text. (Krüger 2023)
1. Das Ende der Sowjetunion führten vor allem innere nationalen Strömungen herbei. Die Vertreter dieser Eliten setzten neoliberal-kapitalistische Strukturen durch. Ihre Dominanz wurde dabei von außen gefördert. Es entstand eine neureiche Schicht Oligarchen inklusive ihrer Gefolgsleute. Für die Mehrheit der Bevölkerung führte die Schocktherapie zu einer flächendeckenden Privatisierung der Staatsbetriebe, zur Erosion staatlicher Sicherungssysteme sowie zu umfassenden Umbrüchen in den inneren gesellschaftlichen Strukturen. Massenverarmung und wirtschaftlicher Niedergang waren die Folge.
2. Die nationalen Wege der ehemals sozialistischen Staaten trennten sich bereits Ende der 1990er Jahre. Die mitteleuropäischen Staaten gingen in Richtung EU. Aber in Russland und Belarus setzte sich ein nationaler Staatskapitalismus durch. Wesentliches Herzstück sind die Sicherheitsstrukturen des Staates inklusive ihrer Erweiterungen im militärisch-industriellen Komplex.
Prof. Krüger bezeichnet das entstehende Regime als „KGB-Kapitalismus“. Dem wird nicht gefolgt. Einerseits ist eine wissenschaftliche Fundierung nicht gegeben. Andererseits vernebelt der Term die relativen Erfolge bei der Konsolidierung anderer Industrie- und Wirtschaftsbereiche, inklusive der vorzeigbaren Erfolge bei der Verbesserung des Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten. Hintergrund ist die kontinuierliche Weiterentwicklung des Systems. Das heutige Russland funktioniert anders, als das vor über 20 Jahren.
3. Ideologischer Pfeiler des gegenwärtigen russischen Staatskapitalismus ist ein nationales Geschichtsverständnis. Ein russischer Nationalstaat entsteht bzw. kommt (wieder) zum Vorschein. Durch seine wirtschaftlichen und sozialen Erfolge entwickelt er auch für ethnische Minderheiten eine gewisse Attraktivität.
Aber Vorsicht bei Aussagen wie denen vom Prof. Krüger zitierten Historikers Andreas Kappeler. Es ist offen, ob „sich die russländische Föderation allmählich in einen russischen Nationalstaat wandelt.“ Prozesse der Nationenbildung verlaufen in Jahrhunderten und sind auch umkehrbar. Zumal Russland kontinentale Ausmaße hat. „Russische Nation“ bedeutet in europäischen Metropolen wie Moskau etwas Anderes als in den Weiten Sibiriens oder den ethnischen Mischgebieten des Kaukasus. Eine Abschätzung, ob das Projekt ´Staatskapitalismus mit russischem Nationalstaat` aufgeht, wird wohl eher am Ende des 21. Jahrhunderts möglich sein, als in seinem zweiten Jahrzehnt.
4. Während sich der russische Staatskapitalismus konsolidieren kann, gelingt dies dem ukrainischen nicht. Er spaltet sich entlang ethnischer Linien. Die Frage, in welche Richtung sich die Ukraine entwickeln sollte – in Richtung EU, in Richtung Russland oder zum (im Text nicht erwähnten) Brückenstaat – führt erst zu wirtschaftlicher Stagnation, dann zu politischer Steuerungsunfähigkeit und letztlich zum Bürgerkrieg. Die Rolle der Oligarchen ist dabei nicht so eindeutig, wie sie Krüger wiedergibt. Ihre ethnische Spaltung begünstigte den Krieg von 2014. Aber heute stehen sie weitgehend geschlossen auf Seiten der West-Ukraine. Hintergrund ist, dass eine Unterordnung unter russische Staatsstrukturen bzw. den Kriegswirtschaften von Donezk und Lugansk einhellig abgelehnt wird. Das westliche Modell ist ihnen genehmer. Klasse schlägt Ethnie.
5. Wichtig ist der Abschluss des Textes. Hier referiert Krüger wieder Kappeler. „Kappeler weigert sich zu Recht, […] historische Parallelisierungen […] auf falsche Weise zu aktualisieren, weil dadurch die heutige Lage und ihre Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft verdunkelt werden.“ Element der Verdunklung ist die Verwendung historisch überkommener Propagandabegriffe – wie die umfassende Verwendung des Begriffs Faschismus. „Man borgt sich im je eigenen Geschichtsrevisionismus aus der Geschichte, was gerade für die eigene Machtentfaltung zu passen scheint, und gerät dadurch in Widerspruch zu anderen Teilen der eigenen Propaganda, etwa dem doch geteilten Antikommunismus.“
6. Die nationalistischen Strömungen in den verschiedenen Staaten interagieren mit einander. Übertragen auf die Grenzregionen Russlands heißt es bei Krüger richtig: Die „Gefahr von Bürgerkriegen und Kriegen wird umso wahrscheinlicher, je ethnisch autoritärer die Formen des Nationalismus auch in den Nachbarländern des Baltikums, Polens, der Ukraine, des Kaukasus und Kasachstans werden.“ Entsprechend kann eine Betrachtung des ukrainisch-russischen Konfliktes nicht beim „russischen Imperialismus“ und des ukrainischen Staatszerfalls stehenbleiben. Im Gegenteil müssen auch nationalen Politiken Polens, des Baltikums, aber auch von Staaten wie Deutschland mit einbezogen werden.
Der auch im Text von Krüger umfassend verwendet Begriff des „eurasischen Imperialismus“ vernebelt hier eher, als dass er die Analyse schärft.
Bildrechte
Bild 1 (Startbild – Karte Europa): Politische Karte Europas ca. 1890. Von Website Wikipedia Original: Meyers Kleines Konversationslexikon. Fünfte, umgearbeitete und vermehrte Auflage. Bd. 1. Bibliographisches Institut, Leipzig und Wien 1892. Autor: Sidonius. Lizenz: Gemeinfrei.
Bild 2 (Kaufkraft Europa): GfK Kaufkraft Europa 2022. Von Pressemitteilung GfK vom 25.10.2022. Autor + Urheberrecht: Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) 2022.
Literaturverzeichnis
Brand, Ulrich (2009): Die Multiple Krise. Dynamik und Zusammenhang der Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen progressiver Politik. Hans-Böckler-Stiftung. Berlin.
GfK (25.10.2022): Die Kaufkraft der Europäer beträgt 2022 im Schnitt 16.344 Euro. Nürnberg. Böhm, Eva.
Durden, Tyler (2023): World Economic Forum Invents New Word To Describe The Extreme Chaos Gripping Our Planet. zerohedge.com. USA.
Kleinwächter, Kai (2012): Macht – Bevölkerung – Politik. In: telepolis, 16.10.2012.
Kleinwächter, Kai (2018): Trump und die Turbulenzen in der Weltpolitik. zeitgedanken.blog. Potsdam.
Kleinwächter, Kai (2022a): Für den Frieden! Die Waffen nieder! zeitgedanken.blog. Potsdam.
Kleinwächter, Kai (2022b): Die Ukraine. Das hochgerüstete Armenhaus Europas. In: telepolis, 22.06.2022.
Krüger, Hans-Peter (2023): Russland und Ukraine. Zwei »verspätete Nationen«. In: neues deutschland, 18.05.2023.
Münkler, Herfried (2015): Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert. 1. Auflage. Berlin: Rowohlt.
Torkington, Simon (2023): Polycrisis. World Economic Forum. Davos.
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Ein Gedanke zu “Ukraine-Krieg – Nation und Polykrisen”