Suche nach konservativen Zügen

Bauer nach e4. Im Schachspiel ist das wahrscheinlich die konservativste, um nicht zu sagen klassischste Spieleröffnung. Mit diesem Eröffnungszug wird man auch in einer Berliner Kneipe nicht verdächtigt CDU-Sympathisant:in oder -Wähler:in zu sein.

Grundsätzlich könnte man meinen, Konservatismus finde man in Berlin höchstens bei Axel-Springer und bei Unions- und FDP-Abgeordneten sowie deren Entourage im Bundestag. Umfragen nach steht die CDU bei den Senatswahlen im Februar aber bei bis zu 26 Prozent und hat somit realistische Chancen die stärkste Kraft zu werden.

Bekanntermaßen spricht jede Partei unterschiedliche Segmente in der Bevölkerung an. Am erfolgreichsten sind bei Wahlen diejenigen, die es schaffen außerhalb ihrer Stammwählerschaft weitere Gruppen für sich zu gewinnen. Aber bis auf Dieter Hallervorden bekennt sich in Berlin fast keine:r öffentlich dazu, die CDU zu wählen. Die Frage ist also, wo sind all diese Wähler:innen?

Auf der Suche nach dieser vermeintlich größten Wähler:innen-Gruppe Berlins habe ich mich bei einem privat organisierten Schachturnier in Berlin Schöneberg in der Kneipe Jonas angemeldet die sich u.a. beschreibt: Unser Publikum ist bunt gemischt, weltoffen und kiezorientiert „Bunt gemischt“ hört sich politisch „grün“ an, aber vielleicht bin ich in diesem Punkt Opfer meiner Denkmuster. Also raus aus meiner Komfortzone, raus aus meiner gewohnten Bubble, hinein in eine für mich neue Third Place-Welt. Kurz gesagt: Warum nicht bei Spieler:innen eines durch und durch bürgerlichen Spiels meine Suche beginnen?

Natürlich ist mein Weg zur Kneipe Jonas gepflastert mit berliner Alltagsrealitäten, verschiedenen Lebensentwürfen und Klischees: Eine junge Frau, die in der U-Bahn souverän Eminems „Without Me“ performt, Obdachlose, Tourist:innen, die sich über das berliner Wetter und die Lebensgeschwindigkeit beschweren, ein leichter aber penetranter Uringeruch. Pendler:innen, die schwarz als die für einzige tragbare Farbe halten und deren Gegenstücke: Hosen, Jacken und Umhängetaschen in grellen Neonfarben. Und Dr. Martens – alle tragen Dr. Martens. Zuschreibungen, die so bekannt sind, wie das Mantra der „schwarzen Null“ bei der Union. Aber in diesen Text gehören sie trotzdem, denn sie sind unverdächtig konservativ zu sein – zumindest den Klischees nach.

Offizieller Start des Turniers ist 19:00 Uhr. Mit bürgerlicher Pünktlichkeit öffne ich 18:50 Uhr die Tür zu einer typischen Berliner Eckkneipe: Langer Tresen, gesellige Stimmung, eine Dartscheibe, ein Billardtisch, an dem ein paar junge Frauen spielen. Eine von ihnen trägt ein schwarzes Fußballtrikot, auf dem in großen Buchstaben „Kurdistan“ aufleuchtet. Mein suchender Blick wurde von einem der Männer hinter dem Tresen offenbar sofort registriert.

„Schachturnier?“
„Ja!“
„Na komm ma rinn!“

Ich dränge mich an einem Typen mit Kopfhörern im Ohr, Macbook auf dem Schoß und Bier in der Hand und einigen ausschließlich männlichen Fußballfans zum Tresen vorbei. Dort empfängt mich einem freundlich lächelnden Mann, der eine erstaunliche Ähnlichkeit zu Richard David Precht aufweist. Nach kurzem Smalltalk stellt sich heraus, dass ich der erste bin. Mit einem Radler (alkoholfrei, Dry January usw.) versorgt, setze ich mich an einen der für das Turnier reservierten Tische und versuche fündig zu werden. Wie stehen die Chancen, hier in der Kneipe Jonas eines dieser seltenen Exemplare von CDU-Wähler:innen zu treffen?

19:05 Uhr: also im akademischen Viertel, trudeln weiteren Schachspieler:innen und der Hauptorganisator ein. Ein junger Mann, smartes lächeln, blauer Adidas-Pullover, zwei große Taschen, gefüllt mit Schachfiguren und den dazugehörigen Brettern. Gespielt wird Blitzschach, pro Person fünf Spiele, Gewinner:in gegen Gewinner:in, Verlierer:in gegen Verlierer:in zu je fünf Minuten + fünf Sekunden pro Zug.

Die ersten drei Spiele verliere ich mal knapp, mal krachend. Meine Gegner:innen sind ein Student, ein Energieberater sowie ein Consultant, der für einen der Big Four tätig ist. Da habe ich ihn: „meinen“ ersten Konservativen an diesem Abend! Schließlich hat die Bundesregierung diesen Gesellschaften unter Angela Merkel mehrere hundert Millionen an Beraterhonoraren überwiesen. Unter Ursula von der Leyen wurde mit Katrin Suder eine ehemalige Partnerin von McKinsey in das Amt einer Staatssekretärin gehoben. Und 2022 wechselte mit Kathrin Degmaier von der BCG-Group für ein kurzes Intermezzo als Kommunikatioschefin ins Konrad-Adenauer-Haus. Die Gleichung Big Four = konservative Wähler:in ist somit immer noch steil, aber nicht abwegig. Nach einem kurzen Gespräch entpuppt mein Gegenspieler sich jedoch als in Brandenburg wohnhaft. Zählt nicht, die Suche muss wohl weitergehen.

Über den Abend und die Radler (weiterhin alkoholfrei) hinweg, komme ich mit den verschiedensten Spieler:innen ins Gespräch. Alle sind Akademiker:innen oder auf dem Weg dahin. Der Altersdurchschnitt liegt meiner Schätzung zufolge zwischen 20 und 35 Jahren. Übrigens wählten bei der Bundestagswahl nur ca. jede(r) fünfte Wähler:in mit einem hohen Bildungsgrad eine der Unionsparteien. Das gleiche gilt für die unter 60-jährigen. Die Spiele vier und fünf kann ich endlich für mich entscheiden.

Mit meinem letzten Gegner komme ich auch in eine politische Diskussion. Wir unterhalten uns über die Geschehnisse in Lützerath, seine Enttäuschung über die Grünen und die Frage, ob er „seine“ Partei nach dem „Verrat am 1,5 Grad Ziel“ noch wählen kann.

Etwas pro-(ak/vo)kativ schlage ich ihm vor, dass er doch die „wahre Klimaschutzpartei“ wählen könne. So titulierte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Jens Spahn, unter anderem zuständig für den Bereich Klimaschutz, vor kurzem die CDU. Eine Antwort blieb er mir schuldig – Siegerehrung.

Das Spiel der Könige scheint in Berlin nicht die Brutstätte der CDU-Stimmen zu sein. Ich werde wohl weitersuchen müssen, vielleicht sollte ich es mal in Prenzlauer Berg probieren. Übrigens: Dr. Martens habe ich auch und ich liebe sie.

Bildrechte

Bild (Startbild): Schachspiel mit Schachfiguren © freestockgallery.de.

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