Stand: Januar 2017
Theresa May wird Großbritannien aus der EU führen. Daran besteht spätestens seit ihrer Rede vom 17.01.2017 kein Zweifel mehr. Auch einen „harten Brexit“ ohne ein gemeinsames Abkommen zwischen der EU und GB würde sie akzeptieren.
„I want Britain to be what we have the potential … to be.
A great, global trading nation that is respected around the world.“
Theresa May (17.01.2017)
Über die Hintergründe des britischen Weges diskutierten am 05. November 2016 Frau Dr. Barbara Lippert (Stiftung für Wirtschaft und Politik; SWP) und Frau Stephanie Pieper (ARD-Studio London) in der Europäischen Akademie. Die Moderation übernahm Dr. Samuel F. Müller. Fünf Thesen von Kai Kleinwächter.
1. Kein Betriebsunfall
Der Behauptung , die Brexit-Abstimmung sei ein „Betriebsunfall“ widersprach Frau Dr. Lippert konsequent. Großbritannien war mit seinen Sonderrechten, opt-out-Klauseln und Nicht-Beteiligung an zentralen EU-Projekten wie Euro und Schengen-Raum nur ein Teilmitglied am Rand der EU. Die Mehrheit der Briten sahen sich nie als einen Teil der EU und lehnen eine über Wirtschaftsfragen hinausgehende Integration im Wesen ab. Der Austritt ist die konsequente Fortsetzung dieser Positionierung.
„Many in Britain have always felt that the United Kingdom’s place
in the European Union came at the expense of our global ties,
and of a bolder embrace of free trade with the wider world.“
Theresa May (17.01.2017)
Entsprechend halbherzig führten insbesondere die Tories ihre pro EU-Kampagne. Die Position – kein Austritt bei Abschwächung der Integration – setzten sie bereits im Februar 2016 bei den Verhandlungen mit der EU-Kommission durch. Die Brexit-Drohung war ein Druckmittel um der EU weitere Zugeständnisse abzutrotzen. Der negative Ausgang offenbarte die Unfähigkeit von Cameron und seinen Verbündeten. Sie ließen sich von „Hinterbänklern“ sowie der UKIP treiben und verzockten sich beim Versuch mit dem Referendum die Austritts-Diskussion zu beenden.
„David Cameron’s negotiation was a valiant final attempt to make it work for Britain …
but the blunt truth, as we know, is that there was not enough flexibility
on many important matters for a majority of British voters.“
Theresa May (17.01.2017)
2. Der Brexit kommt
Premierministerin May stellte bereits kurz nach dem Referendum klar „There’s no going back on EU exit“ [1]. Frau Pieper hob hervor, „obwohl die Remainers das knappe Ergebnis betonen, erkennen sie das Volksvotum an. … Das Parlament wird den Volksentscheid nicht blockieren. … Am Ende des Prozesses wird es ein Dokument geben auf dem Brexit steht.“ Der konkrete Inhalt ist aber aus jetziger Sicht nicht zu prognostizieren.
Frau Dr. Lippert ergänzte, dass es bei den derzeitigen juristischen Auseinandersetzungen vor allem um die Ausgestaltung der parlamentarischen Mitsprache geht. Ursache sind „handwerklichen Fehler bei der Ausarbeitung des Mandats“. Da die Eliten sich eine Niederlage nicht vorstellen wollten bzw. konnten, wurde ein entsprechender „Fahrplan“ nie präzisiert. Insbesondere die Zuständigkeiten von Exekutive und Legislative blieben ungeklärt. Das betrifft auch die Rolle der regionalen Parlamente in Schottland und Nordirland.
„A little over 6 months ago, the British people voted for change.
They voted to shape a brighter future for our country.
They voted to leave the European Union and embrace the world. …
And it is the job of this government to deliver it.“
Theresa May (17.01.2017)

3. Hauptmotiv – Souveränität
Die Zentrale Botschaft des Referendums ist für Frau Pieper „die Ablehnung einer unkontrollierten Zuwanderung über die EU“.[2] Insbesondere die ruckartige Zunahme Anfang der 2000er Jahre sowie seit 2012/13 (Zuspitzung der sozialen Krisen in Südeuropa; Freizügigkeit für Rumänien und Bulgarien) stellten Großbritannien vor große innere Herausforderungen.
Ein zentrales Integrationshindernis war die Überforderung der Kommunen. Insbesondere der Ausbau von Infrastruktur, Schulen und Wohnraum hielt mit der Zuwanderung nicht mit. Sinkende Löhne und massive Sparprogramme in Folge der Weltwirtschaftskrise ab 2008 verschärften die Situation.
„But the message from the public … during the referendum campaign was clear:
Brexit must mean control of the number of people who come to Britain from Europe.
And that is what we will deliver“
„We will continue to attract the brightest and the best to work or study in Britain …
but that process must be managed properly so that our immigration system serves the national interest.“
Theresa May (17.01.2017)
Allerdings steht aus Sicht von Frau Dr. Lippert hinter der Migrationsdebatte eine weitere Dimension – das Problem der Souveränität. Großbritannien bestand immer auf seiner parlamentarischen und juristischen Selbstständigkeit. Insbesondere das Primat des EUGHs fand nie Akzeptanz. Angesichts seiner wachsenden Kompetenz ist inzwischen „kein Kompromiss mehr möglich.“ Entweder Großbritannien gibt Teile seiner Souveränität dauerhaft ab oder verlässt die EU.
„So we will take back control of our laws
and bring an end to the jurisdiction of the European Court of Justice in Britain.
Leaving the European Union will mean
that our laws will be made in Westminster, Edinburgh, Cardiff and Belfast.
And those laws will be interpreted by judges not in Luxembourg
but in courts across this country.“
Theresa May (17.01.2017)
„And that means we are going, once more, to have the freedom
to make our own decisions on a whole host of different matters,
from how we label our food to the way in which we choose to control immigration.“
Theresa May (02.10.2016)

4. Negation der sozialen Frage
Beide Referentinnen konnten die Wirkung der Brexit-Kampagne sowie den offenen Hass gegen das Establishment und die Migranten nicht schlüssig erklären. Halbherzigen Begründungen (UKIP-Populismus, Berichterstattung der Medien, nicht engagierte Elite…) überzeugten sie wohl selbst nicht. „Niemand wollte den Brexit!“ meinte Frau Dr. Lippert – wobei sie mit „Niemand“ die europäischen Regierungen meinte. Die Gratulationen von AFD, Front National bis zur FPÖ wurden nicht diskutiert. Bezüge beider Disputantinnen auf den Vormarsch der AfD in Deutschland zeigten aber eine tiefe Besorgnis – sind doch Parallelen unübersehbar.
Erst auf Nachfrage nahm Frau Pieper auf die sozialen Probleme in England Bezug. Um dann aber abzuwiegeln – „ob Migration Einfluss auf die Löhne hat sei wissenschaftlich nicht erwiesen“. Spätestens hier offenbarte sich, dass beide Referentinnen die neoliberalen Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte seit der Thatcher-Ära nicht hinterfragen. Die soziale Spaltung durch Massenverarmung bei Entstehung eines parasitären neuen Geldadels, Überforderung der Nation durch Armutsmigration, Zunahme anti-demokratischer Strukturen im Staatswesen… alles keine Themen in ihren Beiträgen.
„In the last decade, we have seen record levels of net migration in Britain, and that sheer volume has put pressure on public services, like schools, stretched our infrastructure, especially housing, and put a downward pressure on wages for working class people. …
I know that you cannot control immigration overall when there is free movement to Britain from Europe.“
Theresa May (17.01.2017)
Die Darlegungen der Referentinnen verdeutlichen ein zentrales Problem westlicher Eliten. Hochgebildet, fest in den Netzwerken der Macht verankert und mit sehr interessanten Gedanken, verlieren sie trotzdem ihren Einfluss auf die Mittel- und Unterschichten. Der fortschreitenden sozialen und politischen Spaltung der Gesellschaften haben sie keine Änderung der Realpolitik entgegenzusetzen. Das bestehende System ist aus ihrer Sicht alternativlos.
Stattdessen wird sich auf ein Management des Istzustandes konzentriert bzw. wie Frau Dr. Lippert es ausdrückte: „Die EU ist in den letzten Jahren britischer geworden: realistischer und pragmatischer“. Zu ergänzen wäre: „visionslos und unsozial“. Eine Bürokratie, die – siehe TTIP/CETA – zentrale Probleme Europas wie Jungendarbeitslosigkeit, Altersarmut, Schulden-/Bankenkrisen … nicht substantiell angehen kann und will. Stattdessen wird – so auch auf der Veranstaltung – immer wieder auf einen ominösen Markt verwiesen, der sich irgendwie verändern könnte und beruhigt werden muss.

5. Zukunft der EU – Regression
Einen Zusammenbruch der EU wird es nicht geben, da nach Frau Dr. Lippert „nur Deutschland und Frankreich die systemrelevanten Staaten in der EU sind. Alle anderen könnten austreten.“ Bei den anschließenden Verhandlungen, die sich angesichts divergierender Interessen der Mitgliedstaaten über Jahrzehnte ziehen können, hat die EU die stärkere Machtposition. Beruft sie sich auf die Verträge ist das jeweilige Mitglied nach zwei Jahren raus. Mit allen negativen Konsequenzen.
„I know there are some voices calling for a punitive deal
that punishes Britain and discourages other countries from taking the same path. …
And while I am confident that this scenario need never arise
– while I am sure a positive agreement can be reached –
I am equally clear that no deal for Britain is better than a bad deal for Britain.“
„And President-Elect Trump has said Britain is not ‚at the back of the queue‘ for a trade deal with the United States, the world’s biggest economy, but front of the line.“[4]
Theresa May (17.01.2017)
Aber mit weiteren Austritten ist kaum zu rechnen. In keinem größeren Mitgliedsstaat existieren einflussreiche gesellschaftliche Bewegungen für diesen Schritt. Frau Lippert betonte hier, dass eine Ablehnung des Euros, wie bei der Front National oder der AfD, nicht mit der Forderung eines EU-Austritts gleichzusetzen ist. Selbst umfassende Bewegungen den aquis aufzulösen gibt es nicht.
Aus ihrer Sicht ist eher mit einer Phase der Regression, eines Rückschritts, inklusive separaten Integrationsprojekten und Entscheidungstransfers an die Nationalstaaten, zu rechnen. Dafür spricht, dass der Austritt Großbritanniens eine umfassende Reorganisation der EU bedeutet – über Neugestaltung der Institutionen und Verträge, Neuberechnung und Verteilung der Gelder bis hin zu Standortverlagerungen von EU-Institutionen.
Angesichts der innerer Verteilungskämpfe werden diese Aufgaben Jahre brauchen. Ebenfalls stellt die anhaltende, unkontrollierte Massenmigration von außen die EU vor existenzielle Herausforderungen. Lippert: „Es wird uns bald bewusst werden, welche Zäsur diese Krise bedeutete.“ Durch sie verschärfen sich die politischen Polarisierungen [3] zwischen aber vor allem innerhalb der Mitgliedsstaaten. Der Brexit könnte hier nur ein Vorspiel kommender Umbrüche sein.
Fußnoten
[1] Das griffigere Zitat: „There is no exit from brexit“ stammt von Martin Schulz. Es wird aber inzwischen oft Theresa May zugeschrieben.
[2] Bei der Veranstaltung wurden nur wenige konkrete Zahlen genannt. Bei der Kontrolle selbst dieser Handvoll Daten fällt auf, wie wirksam die Propaganda von rechts ist. Zum Beispiel ist die mehrfach genannte Zahl von über drei Millionen Einwanderern aus Osteuropa nach GB völlig überzogen. Alle EU-Migranten seit 2004 kommen nicht auf diese Größenordnung. Realistischer ist eine Einwanderung aus Osteuropa (von 2004 bis Frühjahr 2016) von ca. 1,2 Millionen. Abzüglich der Auswanderung ist eine Nettomigration von ca. 850.000 plausibel.
[3]Ein Beispiel ist die, auf der Veranstaltung nicht angesprochene, deutsche Migrationspolitik. Aus meiner Sicht, beeinflusste die de facto unkontrollierte Öffnung der deutschen Grenzen sowie das ungesteuerte Aussetzen des Dublin-Protokolls das Brexit-Referendum wesentlich. Die deutsche Politik wurde von den Briten lagerübergreifend völlig abgelehnt. Aber es gab kaum eine Möglichkeit sie zu verhindern. Die Regierung Merkel verweigerte konstruktive Gespräch.
Es war wie eine Bestätigung der UKIP-Behauptung, dass GB keine Kontrolle mehr über seine Grenzen hat. Für den knappen Ausgang des Referendums waren das die entscheidenden zwei, drei… Prozentpunkte. Auch Merkel trägt damit ihre Verantwortung für den BREXIT – trägt ihre Verantwortung für die Schwächung der EU.
[4] Diese Option ist realistisch. Trump bot der britischen Regierung einen „lohnenden“ Handelsvertrag an. Ein ähnliches Angebote offerierte Trum dem französischen Präsidenten im Frühjahr 2018, wenn dieser Frankreich aus der EU führt. Das zeigt, mit welch harten Instrumenten hier um Einfluss gekämpft wird. Trump führt einen offenen Angriff gegen die EU.
Entsprechend bekämpft Trump die Brexit-Strategie der Regierung May. Diese legte im Juli 2018 ein 100-seitiges Weißbuch (blueprint) zum Brexit vor. Darin wird deutlich, dass die Regierung May einen „weichen“ Brexit anstrebt – u.a. soll GB in der Zollunion verbleiben inkl. dem Zugang zum Gemeinsamen Markt, die Niederlassungsfreiheit auf Fachkräfte begrenzt werden sowie die PRoduktstandards gegenseitig Anerkannt werden. Trump lehnt diese Option ab und droht mit einem Scheitern der britisch-USamerikanischen Verhandlungen.
Quelle
BBC (Hrsg.): Brexit – Theresa May to trigger Article 50 by end of March; 02.10.2016
Migration Watch UK (Hrsg.): Net Migration Statistics; 2018.
May, Theresa: The government’s negotiating objectives for exiting the EU; gov.uk 17.01.2017.
OECD (Hrsg.): Averages Wages; OECD Employment Outlook 2016.
Bildrechte
Grafiken: Kai Kleinwächter.
Titelbild: Theresa May. Facebook-Account der Premierministerin.
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