Kritisches zum Weißbuch der Bundeswehr 2016

Zeit für einen Neuanfang

Der Juli 2016 wird mit der Annahme des neuen Weißbuches durch die Bundesregierung als ein schwarzer Monat in die Geschichte der Sicherheits- und Abrüstungspolitik Deutschlands eingehen. Durch die Konzeptions-und Entscheidungsschwäche der amtierenden Bundesregierung befindet sich Deutschland zurzeit in schwerem sicherheitspolitischen Fahrwasser. Das Weißbuch 2016 als Grundlagendokument deutscher Sicherheitspolitik bleibt hinter den politischen, ökonomischen, militärischen, kurz, hinter den gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen eines modernen Staates im 21. Jahrhundert zurück.

Die Bundesregierung scheiterte bei der Erarbeitung des Weißbuches 2016 schon am demokratischen Grundverständnis sowie methodisch am konzeptionell-organisatorischen Herangehen. Das hat weitreichende sicherheitspolitische Defizite zur Folge. Der Anspruch, das „oberste sicherheitspolitische Grundlagendokument Deutschlands“ (Weißbuch 2016, S. 15) zu sein, erfordert mindestens folgende Voraussetzungen:

(1) Die Diskussion und Verabschiedung eines Weißbuches zur Sicherheitspolitik der Bundesrepublik durch den Bundestag hat höchste politische Priorität und wäre einer Demokratie würdig. Damit würden die direkten Befugnisse des Parlaments gestärkt und ausgeweitet.

(2) Die Erarbeitung des Entwurfes eines Weißbuches im Bundeskanzleramt und im Sicherheitsrat und keinesfalls unter Federführung des inhaltlich beschränkten Verteidigungsministeriums. Letzteres kann nicht die Orientierung für eine Demokratie übernehmen – es sei denn, die Regierung strebt eine Militarisierung der deutschen Gesellschaft an. Außerdem verfügt die Bundeswehr mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien über ein ausreichend spezifisches Grundsatzdokument.

(3) Eine umfassende Zuarbeit aller relevanten Ministerien und zivilgesellschaftlichen Großorganisationen für die Gesamtstrategie: „Konzeption Zivile Verteidigung“ des Innenministeriums; Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsstrategie des Außenministeriums; Richtlinien des Verteidigungsministeriums; Zukunftscharta des Entwicklungsministeriums usw.

(4) Eine breite, medial begleitete Diskussion der Werte und Interessen Deutschlands in der Öffentlichkeit. Dabei ist die Enge der Argumentationen von Parteien zu verlassen, die mit ihrer schrumpfenden Mitgliederbasis von 1,5-Prozent der Bevölkerung immer weniger repräsentativ für die Positionen der Mehrheit sind.

Militärausgaben Deutschland

Unsicherheitspolitik

Das Weißbuch 2016 weist eine Vielzahl bewusster Lücken, strittiger Einseitigkeiten und Konzeptionsschwächen auf. Folgende Aspekte sind beispielhaft hervorgehoben, bedürfen aber – wie das gesamte Weißbuch 2016 – einer weitergehenden Analyse und öffentlichen Diskussion:

1. Es fehlt die Einschätzung, dass Deutschland und die EU keiner realistischen militärischen Bedrohung ausgesetzt sind. Dahingehend bleibt die Aufzählung der bedrohlichen „Herausforderungen“ hinter früheren Erkenntnissen zurück.[1]

2. Das behauptete „umfassende Sicherheitsverständnis“ wird durch Überbetonung militärpolitischer Argumentationen auch im politischen „Teil I – Zur Sicherheitspolitik“ konterkariert.

3. Eine Ursachenanalyse für regionale und globale Instabilität, Kriege und Bürgerkriege sowie eine Bewertung der Rolle und der militärischen Niederlagen auch Deutschlands (z. B. in Afghanistan) werden nicht vorgenommen und finden keinen Eingang in die Bewertungen des Weißbuches 2016.

4. Die Machtdiffusion und die Infragestellung der euroatlantischen Friedens- und Stabilitätsordnung werden China, der BRICS-Gruppe, vor allem aber Russland zugeschoben. Das traditionelle Feindbild einer Bedrohung durch Russland wird bedient. Eine absurde Vorstellung angesichts dieser hochgerüsteten Raketenkernwaffenmacht, die, analog zu den USA, die gesamte Menschheit vernichten könnte. Das morbide Abschreckungskonzept funktioniert, inklusive seines durch Ohnmacht getragenen Fatalismus.

5. Die berechtigte Gefahrenanalyse aus dem Cyber- und Informationsraum heraus wird fragwürdig, wenn als „besondere Herausforderung“ die Nutzung der digitalen Kommunikation zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Steuerung von Diskussionen, sozialen Netzwerken und Informationsmanipulation betrachtet wird. Ist das die Angst einer Herrschaftselite, die durch die „Internet-Demokratie“ ihr Manipulationsmonopol verliert?

6. Mit der Einforderung eines „globalen Horizonts“ für Deutschland werden seine gegenwärtigen und künftigen politischen, ökonomischen und v. a. militärischen Handlungsfähigkeiten und Möglichkeiten vollkommen überschätzt. Durch Verweise auf die Bündniseinbindung in NATO und EU wird es nicht realistischer.

7. Die militant geprägte, US-geführte NATO – mit ihren von der Bundesregierung übernommenen Aufrüstungszielen (2 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, 20 Prozent Rüstungsinvestitionsquote) – ist der Sicherheit Deutschlands abträglich. Entscheidende Grundorientierung wäre die Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems unter Einschluss der NATO und Russlands.

8. Das Fernziel einer „gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion“ ist angesichts der multiplen Systemkrise, der anhaltend zentrifugalen Tendenzen sowie der Entsolidarisierung der EU-Staaten aufgrund zunehmender nationaler Grundinteressen (Stichwort: Brexit) konzeptionell fragwürdiges Wunschdenken.

9. Die Chance zur Initiierung einer zukunftsorientierten Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik, als einem Kernelement deutscher Sicherheit, wurde nicht genutzt. Über allgemeine Ziele, inklusive Lücken und Unkonkretem, gingen die Darlegungen nicht hinaus. Ein spürbarer Mangel an Intelligenz und Strategie. Der wenige Tage nach Veröffentlichung des Weißbuchs 2016 unternommene Vorstoß von Außenminister Frank-Walter Steinmeier für einen Neustart bei der Rüstungskontrolle in Europa einschließlich Russland, zur Regelung von Umfang und Stationierung schwerer Waffensysteme, offenbart Realismus und lässt hoffen.

10. Der „Teil II – Zur Zukunft der Bundeswehr“ hat in dieser Exklusivität und Dominanz im Weißbuch 2016 (wie bereits eingangs dargestellt) keine produktive Rolle. Dennoch bedürfen seine problematischen Aussagen einer kritischen Analyse. Erste Dokumente liegen vor,[2] müssen aber auf eine breitere wissenschaftliche Basis gestellt, stärker auf eine alternativ-realistische Verteidigungspolitik ausgerichtet sein und in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden.

Personalentwicklung Bundeswehr

Auflösung eines Paradoxons

Die Militärpolitik Deutschland steckt in einem Paradoxon. Einerseits lehnt die überragende Mehrheit der Bevölkerung von 60 bis 85 Prozent – aufgrund historischer Erfahrungen sowie des Fehlens einer militärischen Bedrohung, dem asozialen Ressourcenverschleiß und der offensichtlichen Ergebnislosigkeit – die Auslandseinsätze der Bundeswehr ab. Verbunden damit ist das Image der Bundeswehr, angesichts der Niederlagen und der destabilisierenden Folgen ihrer Einsätze von Somalia über Afghanistan und Mali bis Syrien weitestgehend negativ bzw. von Desinteresse geprägt. Andererseits wird in ähnlicher Größenordnung die allgemeine Existenz einer Bundeswehr für die Verteidigung Deutschlands und Europas akzeptiert.

Da auf absehbare Zeit der militärische Faktor in der Sicherheitspolitik der Staaten eine Rolle spielt, würde es der Bundesrepublik – analog der Flüchtlingsrettung im Mittelmeer – gut anstehen, ihre militärischen Kapazitäten verstärkt und vorrangig für die Aufgaben der OSZE und der Vereinten Nationen[3] einzusetzen. Insbesondere indem „das deutsche Engagement, unter anderem durch Stärkung materieller und personeller Beiträge zu und Übernahme von Führungsverantwortung in VN-Missionen (zivil, polizeilich, militärisch) und im VN-Sekretariat, ausgebaut wird“. (Weißbuch 2016, S. 63) Dafür ist eine personelle und finanzielle Wende der deutschen Militärpolitik nicht notwendig, würden der Sozial- und Nachhaltigkeitspolitik Deutschlands keine zusätzlichen Ressourcen entzogen sowie das Ansehen und die Motivation (auch der Angehörigen) der deutschen „Friedensstreitkräfte“ gestärkt.

Insgesamt jedoch wurde mit dem Weißbuch 2016 die Chance vergeben, nach der Gestaltung neuer Politikfelder und positiver Image-Facetten in der Flüchtlingsproblematik, dem Verzichts auf Nuklearkraft im militärischen und zivilen Bereich sowie einer Wende in der Energiepolitik, auch in der Sicherheits-, Militär- und Abrüstungspolitik neue Maßstäbe für Europa zu setzen. Die gegenwärtige Bundesregierung hat mit ihrer Widersprüchlichkeit, Lernresistenz und Demokratieverweigerung auf diesen Politikfeldern ihre Grenze erreicht. Es ist Zeit für einen Neuanfang.

Fußnoten

[1] Vgl. Kleinwächter, Lutz (2014): Deutsche Militärpolitik. In: WeltTrends 97, S. 108 ff.; Ders. (2012): „Verteidigungsarmee“ statt „Armee im Einsatz“. In: Crome, Erhard / ders. (Hrsg.): Gemeinsame Europäische Sicherheit. WeltTrends, Potsdam 2012, S. 121 ff.

[2] Vgl. Rosa-Luxemburg-Stiftung / Fraktion Die Linke im Bundestag (Hrsg.): Schwarzbuch. Kritisches Handbuch zur Aufrüstung und Einsatzorientierung der Bundeswehr. Berlin, 18.8.2016.

[3] Vgl. Maier, Daniel: Mehr deutsches Personal für Friedenseinsätze der Vereinten Nationen, 8.8.2016 (abgerufen am 9.9.2016); Wieland-Karimi, Almut: Deutsches Tandem für Krisenprävention: Multilaterale Friedenseinsätze und proaktive Friedenspolitik, 17.8.2016 (abgerufen am 9.9.2016).


Der Artikel erschien zuerst in WeltTrends – Das außenpolitische Journal Nr. 120: Am Ziel vorbei – Weißbuch 2016.

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