Peter Sloterdijk – Weltinnenraum des Kapitals

„Die terrestrische Globalisierung stellt nicht eine Geschichte unter vielen dar. Sie ist … das einzige Zeitstück …, das es verdient, … ‚Geschichte’ oder ‚Weltgeschichte’ zu heißen.“
Peter Sloterdijk (Weltinnenraum des Kapitals, S. 28)

Die Auseinandersetzungen über die Einwanderungspolitik finden auch in der Philosophie ihren Niederschlag. Im bürgerlichen Lager erregte insbesondere der Schlagabtausch zwischen Prof. Peter Sloterdijk und Prof. Herfried Münkler für Aufsehen. Sloterdijk eröffnete den Dialog in Rahmen eines Artikels im Cicero. Münkler antwortete in DIE ZEIT, erhielt eine Reaktion und erwiederte diese. Hier sei als Kontrast der Artikel von Precht und Welzer empfohlen. Im Vergleich zu den „Alten“ zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Generationen.

Trotz dem Rauschen im Blätterwald überrascht Sloterdijks Haltung zu Migration und Grenzen nicht. Kernthesen finden sich bereits in seinem Hauptwerk zur Globalisierung – „Im Weltinenraum des Kapitals“. Darum hier aus gegebenen Anlass die Besprechung des Buches.

Terrestrische Gloablisierung

Sloterdijk unterteilt die Globalisierung in drei Phasen.
In der ersten, der morphologischen Globalisierung, schufen Kartographie, Astronomie und Mathematik die Vorstellung eines einheitlichen Weltkörpers – die Kugelgestalt des Globus. Die realen Aktionen bleiben örtlich begrenzt.

Erst die zweite Phase – die terrestrische Globalisierung, das Zeitalter der europäischen Kolonialreiche, bringt die globale Raumnahme. Aus der philosophischen Begehung unbekannter Orte wird reale Erkundung, Unterwerfung und Einbeziehung aller Gebiete in ein Weltsystem.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges befinden wir uns in Phase drei – der elektronischen Globalisierung. Ihr „Merkmal ist der zunehmende Vorrang der Hemmungen vor den Initiativen“ (S. 23). Die Netzwerke aus Satelliten, Flugkreuzen und Kommunikationsstationen ermöglichen eine Welt der permanenten Rückkopplung. Jeder Aktion folgt, nach einer – immer kürzeren – Verarbeitungszeit, eine starke Gegenreaktion. Einseitige Dominanz der Entwicklung oder gar die Abkopplung von Prozessen ist unmöglich.

Weltkarte Genua von 1457
Weltkarte von Genua; erstellt um das Jahr 1457

Die Entstehung des Weltsystems

Sloterdijk gliedert das Buch in zwei Teile. Im ersten beschreibt er die Entstehung des Weltsystems. Neben der Erklärung der philosophisch-kulturellen Grundlagen dieser Entwicklung werden die Handlungsmuster und Beweggründe der „Expansionsagenten“ verdeutlicht. Diese Abenteurer, Kriminellen, Gescheiterten, Kaufleute und Gelehrte, denen die Heimat zu eng geworden, suchen ihr Heil in der Ferne. Die endlosen Kriege Europas, die sozialen und geistigen Schranken des Mittelalters sowie die ökonomischen Zwänge der Mangelgesellschaften schufen ein Heer von Entwurzelten, die jede Chance ergreifen, einem neuen Paradies entgegen zu segeln.

Sie waren risikobereiter und, nach Jahrhunderten der religiös verbrämten Konflikte, geübter in Selbstsuggestion als vorangegangene Generationen. Sie waren bereit, große ökonomische Risiken einzugehen, hohe Schulden bzw. Investitionen in „Projekte des Wahns“ zu tätigen. Die Entwicklung der modernen Bank- und Versicherungssysteme sowie die globale Expansion bedingen einander. „Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, dass die Erde um die Sonne, sondern Geld um die Erde läuft.“ (S. 79) Die Geschichte der europäischen Expansion ist eigentlich die Geschichte der Ausdehnung des kapitalistischen Handels- und Wirtschaftssystems – hinaus in den „Weltinnenraum des Kapitals“.

Ausdehnung europäischer Wirtschafts- und Herrschaftssystem

Die Gelegenheit erkennend, springen Geistliche auf die auslaufenden Schiffe. Sie geben den Geldsuchenden eine höhere Weihe, rechtfertigen Zweck und Mittel. Wichtiger noch, sie binden die Expansionisten an ihre Heimat. Ohne diese Kontrolle hätten diese ihr Ziel vergessen, ihre Identität verloren – wären assimiliert worden. Die Bordgeistlichen sind elementare Voraussetzung für die „fünf Baldachine der Globalisierung“ (S. 193ff.): Christliche Religion, Entdecker-Sprache, Täterglorifizierung, wissenschaftliche Erfassung des Außenraums sowie Bindung an heimatliche Herrschaftssysteme werden zum integralen Bestandteil der europäischen Niederlassungen. Das ermöglicht eine Veränderung der Fremde und deren Einbeziehung in das europäische Wirtschafts- und Herrschaftssystem.

Rückkehrer aber haben ein neues Weltbild und verändern die Heimat. Ihre Gedanken und Erfahrungen sprengen die alte Ordnung. Trotzdem konnte Europa die Illusion der Initiative ohne Rückkopplung erhalten. Erst mit dem Ende des Dritten Reiches und seinem Weltaufteilungsplan stirbt die letzte der großen Erzählungen Europas. Das Danach in den Kolonialreichen ist Leugnung des Faktischen.

Entgrenzter Raum und Permanente Rückkopplung

Im zweiten Teil analysiert Sloterdijk das gegenwärtige System, seine Entwicklungsmuster und Prozesse. Teilaspekte der Zukunft werden benannt. Leider sind gerade diese zu kurz und wenig konkret. Die Globalisierung ist räumliche Verdichtung. Entscheidende Orte, wie Wohn- und Produktionsstätten, werden auf immer kleinerem Raum zusammengefasst. Gleichzeitig benötigt eine Reise zwischen ihnen immer weniger Zeit. Wo aber jeder Punkt in kurzer Zeit zu erreichen ist und genauso schnell wieder verlassen werden kann, gibt es keine Besonderheit der Fläche mehr. Der Raum wird bedeutungslos – alle Standorte austauschbar. Politische Konstrukte wie die Nationalstaaten verlieren damit ihre Integrationskraft. Was an ihre Stelle treten könnte, verschweigt uns Sloterdijk.

Durch die „Entgrenzung des Raumes“ entsteht eine Welt ständiger Rückkopplung. Fast jede Aktion wird durch Reaktion gestoppt. Die Ideologie der ständigen Veränderung ist letztlich ein Trugbild. Rückkopplungen sind Filter, um das Aktionspotential moderner Gesellschaften zu bändigen. So kann nur umgesetzt werden, was beherrschbar bleibt. Dieser Mechanismus ist elementar für moderne Gesellschaften, beruhen sie doch auf einer zunehmenden Kalkulation aller Risiken – volkswirtschaftlicher wie auch individueller.

Peter Sloterdijk - bei einer Buchlesung 2009

Da die Risiken durch gesellschaftliche und technische Arrangements minimiert werden, leben auch Neoliberalisten und Terroristen nur von der Illusion einer Aktion ohne Gegenwehr. Beide vertreten rückwärtsgewandten Ideologien: Die Einen in Erinnerung an Konquistadoren, die fremdes Land für Ruhm, Kirche und Gold erobern. Die Anderen, in Anlehnung an die mit monotheistischem Eifer erfassten Nomadenstämme des 7. Jahrhunderts. Sie haben Wert als Unterhaltungselemente für die saturierte Masse im „Kristallpalast“, in dem die ständig konsumierenden, Vollkasko-versicherten und letztlich gelangweilten Menschen der Ersten Welt leben. Eine wirkliche Bedrohung oder gar Erneuerung geht von beiden nicht aus. (S. 287ff.)

Düstere Zukunft: Kristallpalast und Ausgeschlossene

Zum Ende des Buches widmet sich Sloterdijk nochmals den Beziehungen zwischen den Bewohnern des Kristallpalastes und den Ausgeschlossenen. Die us-amerikanische Gesellschaft glaubt weiterhin an die Dominanz der Initiative und verhält sich ewig gestrig. Rückkopplungen werden ihre Aktionen eindämmen. Es muss „sich nun erweisen, ob die Europäer imstande sind, sich vom Status des stillen Teilhabers US-amerikanischer Gewaltpolitik zu emanzipieren, ohne selbst den Weg zur Remilitarisierung der Beziehungen zu den Energie- und Rohstofflieferanten zu beschreiten“ (S. 390).

Auffallend sind Sloterdijks düstere Zukunftsorakel: Die Masse der Menschheit, die Bewohner der Dritten Welt, werden von den technologisch Errungenschaften der Ersten ausgeschlossen bleiben. An die Stelle der zerfallenden nationalen Demokratien treten autoritär-populistische Systeme. Nur an wenigen Stellen flammt so etwas wie eine Vision auf – die Errichtung des solaren Zeitalters, verbunden mit „Erwartungen an weltweite Friedensprozesse, an planetarischen Vermögensausgleich und Überwindung der globalen Apartheid …“ (S. 364).

Bewertung: Hervorragend denkintensiv

Sloterdijk hat eine komplexe, tiefsinnige philosophische Theorie der Globalisierung geschrieben, keine einseitig ökonomische oder geschichtliche Darstellung. Er erläutert die Veränderungen des Weltbildes der Menschheit. Entsprechend finden die relevanten Positionen bedeutender westlicher Philosophen widersprüchliche Würdigung. Es gelingt ihm, ein visionäres Gerüst für die übergreifenden Prozesse der letzten 3.000 Jahre zu schaffen. Von hohem Wert sind die vielen gedanklichen Ausflüge, Assoziationen und Pointierungen. Es gelingt dem Autor, Brücken und Verflechtungen quer durch die Jahrhunderte zu aktuellen Ereignissen aufzuzeigen. Gewollt provokante Thesen regen zum Nachdenken, Protestieren bzw. Diskutieren an.

Allerdings hat der intellektuelle Anspruch seinen Preis. Die anspruchsvolle Sprache, die bewusst auf Einfachheit verzichtet, stellt hohe Anforderungen an den Leser. Dieser Eindruck wird verstärkt durch inhaltliche Komprimierung sowie thematische Sprünge. Für die Lektüre sollte man sich Zeit nehmen, sind Fremdwörterbuch und Philosophielexikon angebracht; der Gewinn ist umso größer. Insgesamt ein hervorragendes Buch mit vielen Anregungen und zitierfähigen Aussagen zur aktuellen Politik.

Bibliographische Angaben

Sloterdijk, Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals – Für eine philosophische Theorie der Globalisierung; Suhrkamp 2005.

Bildangaben

1. Karte aus Genua (1457): public domain.
2. Peter Sloterdijk: Bei einer Lesung aus seinem Buch Du mußt dein Leben ändern im ZKM Karlsruhe (2009). Autor: Rainer Lück. Lizenz: Creative Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported (CC BY-SA 3.0)

Der Beitrag erschien zuerst in WeltTrends Nr. 52 – „Deutsche Ostpolitik“ 2006, S. 151-154.

Kunstwerk des Eintrages

Diego Rodríguez de Silva y Velázquez (1599-1660) Christoph Kolumbus präsentiert den Katholischen Majestäten die Neue Welt
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Eine kurze biographische Skizze von Diego Velázquez.

Christoph Kolumbus präsentiert den katholischen Majestäten die Neue Welt

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