Nachdenken über (Staats-)Grenzen

Grenzen sind im allgemeinen Verständnis „territoriale Markierungen zur Absicherung von Macht, an denen der Hoheitsbereich des einen Staates aufhört und der eines anderen anfängt.“ (Kleinschmidt 2014, S. 3) Aber die Bedeutung von Grenzen geht darüber hinaus. Vor allem vier Aspekte sollten beachtet werden.

1. Grenzen sind Konstrukte

2. Grenzen sind Sortiermaschinen

3. Grenzen sind materialisierte Strukturen

4. Grenzen sind geographische Regionen

5. Grenz(regionen) sind soziale Räume

1. Grenzen sind Konstrukte

„Grenzen müssen als komplexe [soziale] Konstruktionen verstanden werden, die einer variablen Konsistenz unterliegen. Was eine Grenze ist und welche Bedeutung sie hat, hängt von den historischen und gesellschaftlichen Umständen ab, in denen sie auftritt.“
Dr. Christoph Kleinschmidt – Goethe-Universität Frankfurt a.M. (2014, S. 3)

Grenzen sind von Menschen geschaffene gesellschaftliche Konstruktionen. „Natürliche Grenzen“ existieren nicht. (Kleinschmidt 2014, S. 4) Es liegt an den Gesellschaften, dass viele Grenzen entlang von Landmarken wie Flüssen, Bergen oder Küsten verlaufen. Die Ursachen können vielfältig sein – bessere Verteidigungsfähigkeit, leichter logistischer Zugang oder der Wunsch nach einer eindeutigen und „ewigen“ Trennlinie. Aber das Motive entspringt immer der jeweiligen Gesellschaft, nicht der Natur. Flüssen, Wolken, Tieren und Pflanzen sind Staatsgrenzen egal.

Mit den sie erschaffenden Gesellschaften ändern sich auch Grenzziehungen und ihre Bedeutung. Aus Sicht ihrer Erbauer markierten Limes und Chinesische Mauer den äußersten (militärisch kontrollierbaren) Bereich der Zivilisation. Jenseits der Bollwerke begann das Land der Barbaren. In der Gegenwart sind die Reste der alten Anlagen touristische Attraktionen.

Datei:Deutscher Bund.svg
Bild 1: Karte der vergessenen Grenzen – Der Deutsche Bund (1815-1866)

Damit bedürfen Grenzen auch einer permanenten gesellschaftlichen Erneuerung. Durch soziale Praktiken wie der Errichtung von Grenzanlagen, Verwaltungsakten oder symbolischer Aufladung entsteht das Konstrukt „Grenze“ immer wieder neu. Hört eine Gemeinschaft damit auf, erlischt die Zuschreibung. (Kleinschmidt 2014, S. 4) Die Grenze verschwindet.

Auch wenn es viele irritiert, Gemeinschaften bzw. Staaten und damit auch deren Grenzen sind nicht ewig. Sie entstehen, wandeln sich und vergehen.

Solche Entwicklung werden auch innerhalb moderner Stadtclustern sichtbar. Die Grenzen zwischen Potsdam und Berlin oder diversen Städten des Ruhrgebietes sind selbst für Anwohner schwer auszumachen. Ortsfremde erkennen den Übergang meist gar nicht. Ähnlich ist es auch bei einigen Ländergrenzen in der EU wie zwischen den BeNeLux-Staaten. (Siehe Bild 3)

„Etwas hat eine Grenze zunächst nur als gegen Anderes; sie ist das Nichtsein des Andern, nicht das Etwas selbst; es begrenzt nicht sich selbst dadurch, sondern sein Anderes. […] Außer der Grenze ist Etwas nicht von seinem Andern unterschieden; es ist nur Dasein, es hat also mit seinem Andern dieselbe Bestimmung […] also ist die Grenze das Insichsein. […] So ist die Grenze Bestimmtheit.“
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1812, 66ff)

Obwohl Grenzen konstruiert sind, können sie über tausende Jahre Bestand haben. Ein Beispiel ist der heutige Grenzverlauf Deutschlands im Westen und Süden. Dieser geht weitgehend auf dem Teilungsvertrag von Verdun aus dem Jahr 843 u.Z. zurück. (Brunold 2015)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/2/2c/Vertrag_von_Verdun.svg/1024px-Vertrag_von_Verdun.svg.png
Bild 2: Grezziehung nach der Teilung des Frankenreiches – Vertrag von Verdun 843 u.Z.

Ursache der Stabilität ist auch das elementare Bedürfnis sich über die Abgrenzung zum Anderen, zu definieren. Erst Grenzziehungen ermöglichen die Unterscheidung. Grenzen dienen damit auch der Konstruktion der eigenen Identität – sei es von Personen, Gemeinschaften oder Staaten. (Kleinschmid 2014, S. 7)

2. Grenzen sind Sortiermaschinen

„Staatsgrenzen sind – trotz der neurotischen Bewachung durch die nationalen Streitkräfte – nicht mit Befestigungen zu vergleichen. Wie man sich am Beispiel der traditionellen Außenhandelspolitik leicht klarmachen kann, funktionieren Grenzen eher als Schleusen, die »von innen« bedient werden, um die Strömung so zu regulieren, dass nur die erwünschten Zu- oder Abflüsse passieren können.“
Prof. Jürgen Habermas (1998, S. 101)

Mit Hilfe umfassender Grenzregime versuchen Staaten Regeln durchzusetzen, „wer die Grenze [zu welchen Konditionen] überschreiten darf und wer nicht.“ (Mau 2010, S. 59) Auf Grund der hohen Quantität und Heterogenität heutigen Waren-, Daten- und Personenströme gleichen moderne Staatsgrenzen regelrechten Sortiermaschinen.

Beispielhaft dafür sind die verschiedenen Warteschlagen beim Zoll. Unterschiedliche soziale Gruppen wie Diplomaten, ausländische Touristen oder EU-Staatsbürger bekommen jeweils eine andere Behandlung. Der Status entscheidet in welche Schlange sich eingereiht werden muss.

Die Grenzpolitik dient dabei sowohl als Instrument in den Beziehungen zum Ausland als auch zur Gestaltung der Innenpolitik. (Welche Waren sind verfügbar bzw. dürfen ausgeführt werden? Welche Personen befinden sich im Land? etc.) Dabei stehen unterschiedlichste Ziele miteinander im Konflikt. Ein Beispiel ist die differenzierte Steuerung des BRD-DDR-Handels. (Kleinwächter 2022)

Da heutige Staatsgrenzen doppelte Grenzen sind, gewinnt ihre Wirkung an Dynamik. So erfolgt eine Selektion bei der Ausreise und dann eine weitere bei der Einreise. Beide Grenzregime reagieren dabei, versetzt über die staatliche Politik, aufeinander. Die Passierbarkeit hängt von beiden Seiten ab.

3. Grenze sind materialisierte Strukturen

Grenzen manifestieren sich in administrativen, technologischen und infrastrukturellen Kapazitäten zur Erfassung, Behandlung und Durchleitung der Personen-, Informations- sowie Warenströme. Die errichteten Strukturen bestehen meist aus einer Kombination von Verwaltungs- und Abfertigungsgebäuden, Transportinfrastrukturen wie Straßen, Schienen oder Hafenanlagen sowie (militärische) Sperr- und Sicherheitsanalagen. Für deren Errichtung bzw. dem Betrieb braucht es vor allem drei Voraussetzungen.

Erstens beruhen Umfang und Effektivität des Systems „Grenze“ auf der realen Leistungskraft des staatlichen Gewaltmonopols bzw. dem politischen Willen dieses durchzusetzen. Entsprechend bezeichnen die oben erwähnten „administrativen Kapazitäten“ in hohen Maße Strukturen organisierter Gewalt in Form von Polizei/Sicherheitspersonal, Ausrüstung / Bewaffnung derselben sowie militärische Infrastruktur wie Überwachungs- und Sperranlagen, Gefängnisse etc.

Zweitens kosten Errichtung und Unterhalt enorme Ressourcen (Personal, Technologie, Geld…). Diese Kosten muss die Ökonomie des jeweiligen Staates erwirtschaften. Alternativ kann auch versucht werden, die grenzüberschreitenden Waren- und Personenströme abzuschöpfen. Letzteres war historisch eines der wichtigsten Motive für die Errichtung von Grenzkontrollen. Für die Einziehung der Mittel braucht es entsprechende Extraktions- und Verwaltungsapparate.

Drittens beruht die Wirksamkeit einer Grenze auch auf den Umfang und der Durchsetzungsfähigkeit von Kontroll- und Sanktionsstrukturen innerhalb des Staatsterritoriums. (Mau 2010, S. 60) Wesentlich ist hier die Fähigkeit, politisch nicht gewollte Personen, Waren, Strukturen etc. vom Staatsterritorium entfernen zu können. Grenz- bzw. Polizeikontrollen und Identifikationspapiere – Exklusion und Inklusion – sind die zwei Seiten der Medaille „Territorialer Herrschaft“. Damit stehen innere und äußere Kontrollen in einer wechselseitigen Beziehung.

Alle drei Punkte zeigen eine inhärente Verbindung zwischen dem militärisch-industriellen Komplex, der Staats- bzw. Finanzbürokratie und staatlicher Politik auf. Die Beziehung ist dialektisch. Eine Verhärtung der Grenzpolitik führt zu bzw. ist Ausdruck einer inneren Militarisierung. Oder andersrum – eine liberale Gesellschaft kann durchlässigere Grenzen schaffen.

Beispielhaft für diese Verquickung steht die geplante Einführung einer biometrischen Erkennung aller Einreisenden aus Drittstaaten in den Schengenraum. Die entstehende Datenbank von mehreren 100 Mio. Einträgen soll ausdrücklich auch zur Bekämpfung der inneren Sicherheit genutzt werden. (Monroy 2023c)

Das zeigt übrigens auch, dass Grenzen auch ein Produktfeld sind. Allein die oben genannte Datenbank für den Schengenraum war mit 142 Mio. € kalkuliert. Das Konsortium um IBM und ATOS erhöhte den Preis inzwischen um weitere 30 Mio. Die jährlichen Betriebskosten sollten im zweistellige Millionen-Bereich liegen. Inzwischen ist die Fertigstellung auf unbestimmte Zeit verschoben. Damit hängt auch das EU Projekt einer Meta-Datenbank, in der alle biometrischen Erfassungssysteme zusammengeführt werden sollten. Kalkulierte Kosten waren bisher 442 Mio. €. (Monroy 2023b)

Außen- und Innenpolitik sind miteinander verbunden. Je kooperativer die Politik zwischen zwei Staaten ist, umso lockerer kann ihr Grenzregime sein – eine wesentliche Voraussetzung für eine innere Liberalisierung. Entspannungspolitik führt erst zu äußerer und dann auch zu innerer Abrüstung.

Bild 3: Unterschiedliche Grenzen

Nicht von ungefähr erfolgte die Durchsetzung des europäischen Visasystems im Rahmen des I. Weltkrieges.  Es sollten potentielle Rekruten an der Ausreise als auch Spionen und Militärs der Gegenseite an der Einreise gehindert werden. (Mau 2010, S. 60) Mit dem Grenzregime ließen sich auch die umfassenden Handelsbeschränkungen durchsetzen.

Die Entwicklung ist ähnlich der heutigen Zeit. Die Verhärtung der Grenzen zu Russland und anderen Weltregionen ist langfristig nur mit einer inneren Militarisierung durchzuhalten. Je länger und intensiver die Bemühung um Entkopplung und Isolation werden, umso höher steigen die gesellschaftlichen Kosten – abzulesen an der Höhe der Grenzzäune.

Bild 4: Karte aus dem neuen deutschland vom 06.11.2022, S. 24. Sie zeigt die zunehmende Verhärtung der EU-Grenzen seit 2012. Der Prozess gewinnt seit der Zuspitzung außepolitischer Konflikte mit Belarus, Russland aber auch der Türkei deutlich an Dynamik.

4. Grenzen sind geographische Regionen

Auf Landkarten wirken Grenzen wie Striche in der Landschaft. Allerdings erschweren in der Moderne die inländischen Grenzen zum Beispiel an/auf Flughäfen und administrative Grenzen im Cyberspace die räumliche Verortung. Darüber hinaus sind auch die klassischen Staatsgrenzen geographisch nur unscharf zu erfassen.

Es entstehen Grenzregionen, deren wirtschaftliche aber auch politische und kulturelle Entwicklung aufs engste mit der Entwicklung der Grenze verknüpft ist. Diese Grenzräume können auf Grund der heutigen Mobilität so groß werden, dass sich nicht nur für kleine Länder die Frage stellt, was eigentlich kein „grenznaher Raum“ ist?

Bild 5: Grenzregionen entlang der Binnengrenzen der EU28 und der EFTA

Das bezieht sich auch auf die staatlichen Grenzregime. So darf zum Beispiel der Bundesgrenzschutz auch weit im Hinterland die Grenzen schützen – bis zu 30 km bei Landesgrenzen und bis zu 50 km bei Seegrenzen.

Beispiel FRONTEX

In der Gegenwart kommt es zu einer immer stärkeren territorialen Ausweitung des Systems „Grenze“. Ein prägnantes Beispiel in der Europäischen Union ist die zunehmende Ausweitung des Einsatzgebiets der Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (FRONTEX).

FRONTEX operiert in immer mehr Staaten außerhalb des EU-Hoheitsgebietes. Die Balkan-Staaten Albanien, Montenegro und Serbien unterzeichneten entsprechende Abkommen bereits 2019. Im Zuge des Ukraine-Krieges wurde auch ein Abkommen mit der Republik Moldau geschlossen. Die Verhandlungen mit Nordmazdonien und Bosnien-Herzegowina sind weit fortgeschritten. (Monroy 2023a) Gleichzeitig strebt die EU-Kommission Stationierungen im Senegal und Mauretanien an. (Lambeck 2023)

Diese „Externalisierung der europäischen Migrationspolitik“ (Monroy 2023a) löst die klassische Grenzziehung weitgehend auf. In den entstehenden Rechtsräumen wird je nach Grenze (Afrika, Balkan, EU-Grenze, innere Grenzen Schengenraum, internationale Seegrenzen…) das eigentlich einheitliche europäische Asyl- und Migrationsrecht sehr unterschiedlich angewendet. Zumal alle FRONTEX-Abkommen mit der Zusicherung einer weitgehenden Immunität der Beamten einhergehen. Sie erhalten Eingriffsrechte und einen Schutzstatus weit über dem jedes Grenzbeamten der entsendenden EU-Staaten. Klagen gegen Fehlverhalten bzw. -entscheidungen müssen nach EU-Recht in der EU geführt werden. Für die Betroffenen dieser Politik – die Migranten – eine nahezu unüberwindliche Hürde.

Die räumliche Entgrenzung geht dabei mit sowohl quantitativen als auch qualitativen Aufrüstung von FRONTEX einher. Die zukünftig bis zu 10.000 Mann starke Organisation verfügt inzwischen über ein breites Spektrum auch militärischer Fähigkeiten. Sie gleicht zunehmend mehr einer Grenzarmee als einer Polizei. Die Gefahr in lokale Konflikte bzw. Kriege hineingezogen zu werden, wächst deutlich. Beispielhaft dafür steht Libyen. FRONTEX ist über die Unterstützung diverser Milizen de facto ein Kriegsakteur geworden.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, welche reale staatlichen Souveränität die Länder, in denen solche „Grenztruppen“ stationiert sind, noch haben? Ist es nicht sogar die Rückkehr zu einer kolonialen Verwaltung?

5. Grenz(regionen) sind sozialer Räume

Je stärker sich die Volkswirtschaften dies- und jenseits der Grenze unterscheiden, umso bedeutender die Grenzökonomie. Die unterschiedliche Warenpreise in den Volkswirtschaften treiben sie an. (Steen et al. 2019) Dabei verhindern die staatlichen Eingriffe eine Angleichung u.a. durch politisch beeinflusste Wechselkurse, unterschiedliche staatliche Subventionen, verschiedene Verbote sowie Zölle. Aus dem Preisgefälle können erhebliche Profite entstehen – zumal wenn diese steuerfrei sind.

Ein Beispiel für einen solche Grenzökonomie ist Kehl am Rhein. (Ruf 2023) Die Grenzstadt, früher ein Teil von Strasbourg, erlebt seit einigen Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung. Dieser wird wesentlich getrieben durch die französische Politik: deutliche höhere Steuern auf Zigaretten als in Deutschland, das de facto Verbot von Shishas, weitgehende Untersagung von Glücksspielen (insb. Automaten) und weitgehende Kriminalisierung von Prostitution (seit 2016 auch gegenüber von Freiern) treiben Kunden nach Deutschland. Sie fahren mit der Straßenbahn – ohne Grenzkontrolle – direkt ins Konsumparadies. Dazu kommt die Gentrifizierung von Strasbourg. Viele Einwohner können sich die dortigen innerstädtischen Mieten nicht mehr leisten.

Interessante Folge ist, dass sich zunehmend die Sprachgrenzen verschieben. Insbesondere um den Kehler-Bahnhof und der Innenstadt dominiert französisch bereits. Die Einheit von Staats-, Wirtschafts- und Kulturgrenze löst sich auf.

Grenzkontrollen und Grenzökonomien

Bei illegalen Gütern sollen die Grenzkontrollen die Schmuggel-Wirtschaft bekämpfen. Aber eigentlich stabilisieren sie das System. Die Regulierung der Grenze sichert den professionellen Schmugglern den Profit und sorgt für anhaltende Preisunterschiede. (Wagner 2010, 54f) Eine völlige Grenzschließung ist genauso unerwünscht wie die völlige Öffnung. Zumal in den Grenzregionen oft kaum andere Industriezweige angesiedelt sind.

Die Grenzökonomien können einen erheblichen Umfang annehmen. Nach Schätzungen leben in Melilla (spanisch-marokkanische Grenze) ca. 20.000 Menschen vom Schmuggel. Mehr als 9.000 Menschen überschreiten täglich die Grenze mit bis zu 50 kg schweren „Handgepäck“. (Khamis 2019) Auch an der polnisch-belarussischen Grenzen dürften ca. 40.000 Personen (inkl. der Familien) ihren Lebensunterhalt zumindest in Teilen durch die Grenzökonomie aufbessern. (Wagner 2010, S. 48) Geschätzt über 90 Prozent der Grenzübertritte dienen dem Warenschmuggel.

Ähnlich hohe Zahlen sind aus dem Grenzhandel Kuba-Lateinamerika (Knobloch 2018), dem Benzin- sowie Waffenschmuggel im Bosnien-Krieg über Albanien und Montenegro (Wiedemann 1995) oder beim gegenwärtige Zigaretten- und Benzinschmuggel an der deutsch-polnisch Grenze (Graczyk und Cielemecki 2014) bekannt.

Diese Grenzökonomien sind so umfassend, dass sie zu einem „offenen Geheimnis“ werden. Es ist allen die es wissen wollen – ob Einwohner, lokale Unternehmen, Zoll, Grenzschutz oder Gemeindeverwaltung – bekannt, wie umfangreich die Strukturen sind. Spätestens durch Verwandte und Freunde sind Alle Einwohner irgendwie involviert. Entsprechend wird dem Schmuggel, solange ungeschriebene Regeln nicht überschritten werden, tolerant begegnet.

„Schmuggler und Zöllner treffen sich hier wie Schauspieler und Zuschauer in einem „Theater“. […] Sie spielen den Alltag und haben dabei die Möglichkeit, Normen und Werte zu relativieren, ohne dass damit deren Gültigkeit außerhalb des „Theaters“ infrage gestellt würde. [… Sie spielen] gemeinsam auf der Bühne die normale Grenzkontrolle an einer westeuropäischen Grenze. Kontrolliert wird nur noch oberflächlich, die Kenntnis des Schmuggels ist hier mit einem Mal nicht mehr präsent.“
Dr. Mathias Wagner Universität Bielefeld (2010, S. 52)

Die gegenseitige Anerkennung der sozialen Rollen – Schmuggler, Zöllner, Transportunternehmen etc. – ist dafür elementar. Die lokalen Akteure bilden eine soziale Gemeinschaft. Zumal die Schmuggler keine soziale Randgruppe sind. Im Gegenteil, sie kommen meist aus derselben sozialen Schicht wie die Zöllner. Man kennt sich – vom Kindergarten, der Schule, dem Kegelklub oder der Parteiversammlung.

Im Grenzregime bildet sich eine facettenreiche Halbwelt. Die Unterscheidung von Touristen, Berufspendlern, Kleinkriminellen, (Gelegenheits-)Schmugglern, Zuliefererindustrie, Organisierter Kriminalität sowie Sicherheits- und Geheimdienstpersonal ist dabei fließend. Ein Wechsel der sozialen Rollen wird öfters vollzogen.

„Der berufliche Schritt vom Schmuggler zum Zöllner oder vom Zöllner zum Schmuggler ist nur [klein …] Der Zöllner, der aufgrund von Korruption entlassen wurde und sich dann als Schmuggler wieder an der Grenze findet, [oder] der Zöllner, der früher auf dem Markt einen legalen Kleinhandel betrieben hatte, bevor er zum Zoll ging.“
Dr. Mathias Wagner Universität Bielefeld (2010, S. 52)

Natürlich ist das soziale Arrangement instabil. Einerseits kann es, wenn eine Seite überzieht, in Gewalt umschlagen. Andererseits ist es immer dem politischen Druck von „oben“ unterworfen. An den Außengrenzen der EU galt früher das Primat des zügigen Grenzübertrittes. Kleinschmuggel wurde durchgewunken. Was zum interessanten Effekt führte, dass bei Kontrollen durch übergeordneter EU-Zollbehörden die günstigsten Schmuggelbedingungen entstanden. (Wagner 2010, S. 54)

Derzeit schlägt das Pendel in die andere Richtung. Die Grenzen nach (Weiß-)Russland werden auch mit fragwürdigen Mitteln geschlossen. (Mattern 2022) Aber die politisch gewollte Zerschlagung der sozialen Netze wirkt auf die Ökonomie der Grenzregionen zurück – und schädigt sie nachhaltig. Den einen Ersatz für den Wegfall des kleinen und großen Grenzverkehrs gibt es nicht.

„Das Nachdenken über die Ambivalenz der Gren­ze kann dazu beitragen, allzu strikte Grenz­praktiken kritisch zu hinterfragen. [Mit] Einsicht in den Konstruktionscharak­ter […] gilt es, in der Variabilität von Grenzen eine produktive Möglichkeit zu sehen, sich selbst und die Praktiken des sozialen Umgangs immer wieder neu zu entwerfen.“
Dr. Christoph Kleinschmidt – Goethe-Universität Frankfurt a.M.(2014, S. 8)

Weiterführende Literatur

Landeszentrale für Politische Bildung (Hg.) (2014): Grenzen. APUZ 63 (4-5). Bonn.
(Genese des Wortes „Grenze“; Diskussion von Grenzen in der Philosophie und Soziologie; historische Entstehung am Ende der Bronzezeit.)

WeltTrends (Hg.) (2010): Selektive Grenzen. Potsdam: Universitätsverl; WeltTrends 71.
(Politische Bedeutung von Grenzen; Migration und Grenzen; Internationale Beispiele von Grenzregimen)

Bildrechte

Bild 1: Der Deutsche Bund (1815-1866). Von Website Wikimedia Autor: Ziegelbrenner. Lizenz: Attribution-ShareAlike 3.0 Unported (CC BY-SA 3.0).

Bild 2: Der Vertrag von Verdun 843. Von Website Wikimedia Autor: Furfur. Lizenz: Attribution-ShareAlike 4.0 International (CC BY-SA 4.0).

Bild 3 (Startbild): Grenzen USA-Mexiko sowie Niederlnde-Belgien. Meme Internet.

Bild 4: Grenzregionen entlang der Binnengrenzen der EU28 und der EFTA. Aus: Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament – Stärkung von Wachstum und Zusammenhalt in den EU-Grenzregionen (20.9.2017 COM(2017) 534 final), S. 4. Autor: Europäische Kommission.

Literaturverzeichnis

Brunold, Robin (2015): Vertrag von Verdun. Aufteilung des Frankenreichs und Geburt des modernen Europas. http://www.geschichte-lernen.net. München.

Graczyk, Maria; Cielemecki, M. (2014): Invasion der „Ameisen“. In: FOCUS, 24.01.2014.

Habermas, Jürgen (1998): Die postnationale Konstellation. Politische Essays. 1. Aufl., Erstausg. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 2095).

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1812): Wissenschaft der Logik. Erster Bande. Die objektive Logik. 1. Aufl. Bd. 1.1. Nürnberg: Schrag.

Khamis, Hammed (2019): Sklaverei in Melilla. Ausgeliefert im Sehnsuchtsort. In: neues deutschland 74, 26.02.2019 (48), S. 3.

Kleinschmidt, Christoph (2014): Semantik der Grenze. In: APUZ 63 (4-5), S. 3–8.

Kleinwächter, Kai (2022): Politische Steuerung des Handels mit der DDR. zeitgedanken.blog. Potsdam.

Knobloch, Andreas (2018): Alles nur keine Drogen. In: neues deutschland 73, 07.02.2018 (32), S. 17.

Lambeck, Fabian (2023): FRONTEX drängt nach Westafrika. In: neues deutschland, 02.03.2023 (52), S. 2.

Mattern, Jens (2022): Abschied von der „Finnlandisierung“. In: telepolis.

Mau, Steffen (2010): Grenzen als Sortiermaschinen. In: WeltTrends 18 (71), S. 57–66.

Monroy, Matthias (2023a): Testfeld Westbalkan. In: neues deutschland, 02.03.2023 (52), S. 2.

Monroy, Matthias (2023b): Rochade bei EU-Datenhamstern. In: neues deutschland, 30.03.2023 (75), S. 5.

Monroy, Matthias (2023c): EU errichtet weltweit größte Biometrie-Datei. In: neues deutschland, 17.04.2023 (88), S. 2.

Ruf, Christoph (2023): Die deutsche Vorstadt. In: neues deutschland, 16.01.2023, S. 3.

Steen, Frode; Ulsaker, Simen; Friberg, Richard (2019): Hump-shaped cross-price effects and the extensive margin in cross-border shopping. In: cepr.org, 02.07.2019.

Wagner, Mathias (2010): Der tolerierte Schmuggel. In: WeltTrends (71), S. 47–56.

Wiedemann, Erich (1995): „Benzin ist unser Glück„. In: spiegel, 23.07.1995 (30).

Creative Commons Lizenzvertrag Weitere Informationen zum Urheberrecht unter Kontakt/Impressum/Lizenz.
Bei Interesse können die statistischen Daten für die Grafiken per Mail zugesandt werden.

ORCID iD icon https://orcid.org/0000-0002-3927-6245

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..