Aktualisierung: März 2023
Erste Fassung: Mai 2021
„Die Ära Merkel geht erkennbar zu Ende
Und die Frage ist, wer stellt die Weichen in diese neue Zeit?“
Robert Habeck, Parteitag der Grünen 2020 (Zinkant 2020; 00:11ff)
Bei der Doppelwahl Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zeigten sich mögliche Wege der politischen Bedeutung der Grünen für die Bundesebene. Sie könnten eine neue dominante Kraft oder eine zwischen Opposition und Mehrheitsbeschafferin changierende Partei werden.
These 1: Der von der Merkel-Regierung angezettelte Versuch, den Atomausstieg in die Ewigkeit zu verschieben, führte 2010/11 zu einem enormen grünen Aufschwung. Die Partei verdreifachte ihre Stimmen in Rheinland-Pfalz und verdoppelte sie in Baden-Württemberg.
In beiden Bundesländern traten die Grünen anschließend mit der SPD in die Landesregierung ein. Anschließend entwickelte sich die Partei völlig unterschiedlich. In Baden-Württemberg gelang es zur dominierenden Kraft aufzusteigen. Hingegen blieben die Grünen in Rheinland-Pfalz eine Mittelpartei mit stark schwankenden Einfluss.

These 2: Die Umwelt- und Naturpolitik ist eine der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Mit dem Markenkern „Nachhaltigkeit“ gelingt den Grünen die Anschlussfähigkeit an die (meisten) gesellschaftlichen Diskurse. Aber die Fähigkeit zur Umsetzung in Wählerstimmen hängt wesentlich von Union und SPD ab. Durch der Öffnung gegenüber neuen Themen können die „Alten Parteien“ die Grünen – wie in Rheinland-Pfalz – auf dem Niveau einer Mittelpartei halten. Versuchen sie hingegen, alte Strukturen konfrontativ zu mumifizieren (Atomausstieg 2011, Stuttgart 21, Dannenröder Forst…), steigen die Grünen zur dominierenden Kraft auf.
These 3: Die grünen Stimmenzuwächse speisen sich vor allem aus zwei Segmenten. Die größte Anzahl kommt aus dem Bereich der Nichtwähler. Diese wählten entweder noch nie oder waren von anderen Parteien so enttäuscht, dass sie mindestens einmal nicht zur Wahl gingen. Es fällt allerdings schwer dieses oft radikale Potenzial, dauerhaft zu binden.

Zumindest in West-Deutschland stellt die sozialdemokratische Mutterpartei SPD das zweite bedeutsame Reservoir. Umfassende Wählerkontingente wechseln zur grünen Alternative, wenn die Sozialdemokraten als nicht zukunftsfähig angesehen werden oder keine Machtperspektive bieten. Wie in Baden-Württemberg kann dieser Prozess bis zur permanenten Schrumpfung der SPD auf eine Mittelpartei führen.
Aber auch das Wählerpotential der CDU erweist sich als nicht immun. Spätestens bei eklatanten strategischen Fehlentscheidungen bzw. Fehlleistungen wie der derzeitigen Corona-Politik, geraten auch die Konservativen in den Sog der Grünen. Die von dort rekrutierten Stimmen sind zwar quantitativ weniger bedeutend, aber ermöglichen den Durchbruch zur dominanten Kraft.
„Wir sind 1990 aus dem Bundestag rausgeflogen, weil wir plakatiert haben,
´Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter.` […]
Da sieht man – eine Partei kann nicht nur ihr Kernthema bearbeiten.“
Winfried Kretschmann (Zinkant 2020, 30:35ff)
These 4: Wie die dramatischen Stimmenverluste in Rheinland-Pfalz von 2016 und die Erfahrungen auf Bundesebene nach 2005 zeigen, ist der grüne Erfolg kein Selbstläufer. Das ausschließlich ökologisch orientierte Wählerklientel ist begrenzt. Die Bindung weiterer Wählergruppen muss über andere Themenfelder erfolgen. Aber die von der SPD kommenden sowie die meisten Nichtwähler sind mit konservativen Positionen kaum an die Partei zu binden. Den meisten Erfolg verspricht die Etablierung als (zweite) sozialdemokratische Partei. Durch eine Kombination von ökologischen und sozialen Themen könnten die Grünen zu einer bestimmenden Kraft werden, die sogar die gegenwärtige SPD in den Schatten stellt.
Dafür braucht es aber entsprechende Führungspersönlichkeiten. Es sollte nicht übersehen werden, dass der Erfolg in Baden-Württemberg sich auf kommunaler Ebene spiegelt. Bundesweit bekannte Bürgermeister wie Fritz Kuhn (Stuttgart) und Boris Palmer (Tübingen) stehen stellvertretend für eine starke urbane Präsenz in der Fläche.
Wie hoch die Bedeutung dieser Personen ist, zeigte sich bei den Oberbürgermeisterwahlen 2021 bzw. 2022. Fritz Kuhn trat in Stuttgart 2021 nicht mehr zur Wahl an. Die alternative Kandidatin der Grünen (Frau Muhterem Aras) verlor gegen den Vertreter der CDU. Boris Palmer trat 2022 als parteiloser Kandidat an. Bereits im ersten Wahlgang erreichte er die absolute Mehrheit. Die Kandidatin der Grünen (Frau Ulrike Baumgärtner) kam auf 22 Prozent. (Mühlebach 2022)
Beide entschieden sich für ihren Weg nach massiven Partei-Querelen. Kuhn wurde vorgeworfen nicht energisch genug ökologische Projekte voranzutreiben. (Soldt 2020) Palmer stand wegen diverser Äußerungen seit Jahren mit der eigenen Partei auf Kriegsfuß. Ein Parteiausschlussverfahren ruht – solange er seine Parteimitgliedschaft ruhen lässt. (Ruf 2022)
Wie hart die internen Auseinandersetzungen sind, zeigt ein Tweet von Vasili Franco – grüner Abgeordneter des Landesparlamentes Berlin. Er bezeichnete Palmer nach seinem Wahlsieg als „ersten Abgeordneten der AfD.“ Die Einlassung von Cem Özdemir – über 70 Prozent der Wähler hätten „auf die ein oder andere Art in Tübingen grün“ gewählt – ist ein müder (aber trotzdem machtpolitisch richtiger) Versuch die Wogen zu glätten. (Böldt 2022) Özdemir ist wohl mehr als anderen bewußt, dass die Grünen über kein (bürgerliches) Personal verfügen, um Kuhn und Palmer zu ersetzen. Auf ihr Kernklientel reduziert, können sie aber in Großstädten keine Mehrheiten erlangen.
These 5: Allerdings ist die „Sozialdemokratisierung“ nicht ohne Risiken. Zu dieser Politik gehört zum Beispiel auch – wie unter Kretschmar erfolgt – die Sicherung traditioneller Industriearbeitsplätze. Stichwort: Kaufprämie für Verbrennungsmotoren.
„Wir von Fridays for Future bleiben eben diese Bewegung […,]
weil wir nicht wie den Fehler der Grünen machen wollen,
dass wir in die Politik gehen und ein Teil des Problems werden.“
Leonie Bremer „Fridays for Future“ (Zinkant 2020, 44:20ff)
Aber mit solchen Forderungen droht ein Wegbrechen der ökologischen Basis. In Baden-Württemberg bekam die Partei schon jetzt weniger Stimmen als 2016. Vor allem radikalere ökologische Bewegungen zeigen die (potentiell) fragile Position auf. So wechselten mehr als 70.000 Grünen-Wähler zu „Kleinstparteien“ unter der fünf-Prozent-Hürde. Allein die „Klimaliste“ gewann aus dem Stand heraus mehr als 40.000 Stimmen.
Das trotzdem der relative Wahlanteil stieg, lag an den größeren Verlusten der anderen Parteien sowie der fünf-Prozent-Hürde. Die Frage steht, ob ein*e Nachfolger*in Kretschmars diesen Stimmenanteil halten kann. Die Entwicklung der CDU in Baden-Württemberg sowie im Bund sollten Mahnung sein. Die Zeiten umfassender fester Wählerreservoirs sind für alle Parteien vorbei.
Die Erfahrungen auf Bundesebene und in den Ländern zeigen: Ohne realistische Politik jenseits radikal-ökologischer Blütenträume bleiben die Grünen eine Mittelpartei. Aber geben sie für ihre „Regierungsfähigkeit“ zu viele Positionen preis, droht der Verlust substanzieller Wählergruppen. Charismatische Persönlichkeiten, wenn man sie denn hat, können dies nur zeitweilig überdecken. Zumal auf Bundesebene Presse, Öffentlichkeit und auch die eigenen Parteigenossen wesentlich härter mit Politikern ins Gericht gehen, als in den Ländern.
Nordrhein-Westfalen ist ein Beispiel für einen solchen Substanzverlust der Politik mit folgenden Verlust an Wählerstimmen. Dort verloren die Partei 2016 fast fünf Prozentpunkte und damit ihre Regierungsbeteiligung. Der folgende Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), hat einen Punkt, wenn er am Beispiel des Hambacher Forstes erklärt:
„[…] der hatte einmal 4.100 ha.
3.900 ha sind unter grüner Regierungsverantwortung abgeholzt worden. […]
Und vom Tag der Wahlniederlage an standen sie plötzlich auf den Barrikaden und
haben mit den Bürgerinitiativen demonstriert.
Als sie regiert haben, haben sie Wald gerodet.“
Armin Laschet (Zinkant 2020; 39:05ff)
These 6: Die Grünen zeigen deutlich, dass sie an die Macht wollen. Bei der Bestimmung der Kanzlerkandidatin spielten weder Basisdemokratie noch moderne Ansätze (warum nicht als Duo in den Wahlkampf um die Regierungsmacht gehen?) eine Rolle. Gleichzeitig werden die politischen Reden immer inhaltsleerer. Störende Forderungen (Beispiel: beratende Bürgerräte statt verbindliche Volksentscheide) und Politiker (Beispiel Palmer) werden entsorgt. Trotzdem fallen beim Vergleich der politischen Positionen mit den Konservativen nur geringe Schnittmengen auf. Damit stellt sich die ernsthafte Frage, wozu in solchen Bündnissen regieren? Nur um der Macht willen?
These 7: In der Führungsspitze der Grünen tobt eine Auseinandersetzung um die zukünftige Ausrichtung. „Realpolitische“ Strömungen wollen eine Koalitionsfähigkeit mit der CDU und der FDP durchsetzen. Insbesondere im Politikfeld der Außenpolitik stehen die Grünen stramm auf Bündnis mit den USA sowie einem Konfrontationskurs mit Russland und China. Ein nicht nur außenpolitisch fragwürdiger, sondern auch innenpolitisch äußerst riskanter Kurs.
„Mit moralinsaurer Hybris, fehlendem strategischem Machtrealismus
und den ideologischen Scheuklappen des Kalten Krieges
wird [eine moderne Außenpolitik] nicht gelingen.
Grüne Nebelkerzen ersetzen keine zeitgemäße außenpolitische Strategie.
Droht eine olivgrüne Außenpolitik im wertegeleiteten Gewand?“
Majd El-Safadi (2021, S. 70)
Im Gedenkgottesdienst der jüdischen Gemeinde in Berlin bezeichnete Baerbock die „Raketenangriffe der Hamas [als] Mordversuche auf schlafende Kinder.“ (Wilke 2021). Die trans-atlantische Förderprogramme zeigen Wirkung. (Johnstone 2021) Mit ähnlich irrlichternden Thesen tritt Habeck auf. Er fordert deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine, den diese „verteidige die Sicherheit Europas“ (May 2021).
„Sie sind als pazifistische Partei gegründet worden, sie haben den NATO-Doppelbeschluss abgelehnt und haben dann Belgrad bombardiert. Also zum ersten Mal ein deutscher Kampfeinsatz auf dem Balkan – ausgerechnet auf dem Balkan. […] Die Regierungspartei der Grünen war durch einen totalen Bruch mit all dessen gekennzeichnet – was die Grünen in ihrer Gründungsphase vorhatten.“
Armin Laschet (Zinkant 2020; 34:00ff)
Solche hoch-emotionalen Denkweisen führen schnell zu irrationalen außenpolitischen Entscheidungen. Hier drohen Wiederholungen der gescheiterten Kriegseinsätze in Kosovo und Afghanistans. Die Grünen (und die SPD) setzen in ihrer Regierungszeit die ersten deutschen Kampfeinsätze seit 1945 durch. (Gallagher 2023) Der Preis für die Grünen war erst die Aufgabe weiterer ökologischer Gestaltung (Stichwort: Agenda 2010) und ein anschließender Machtverlust für mehr als 15 Jahre.
„Wenn man Ende 20zig-jährige – Mitte 30zig-jährige zu den Grünen fragt,
da wird man immer wieder daran erinnert – und wie ich finde zurecht –
das, als die Grünen zum ersten Mal in der Regierung waren,
sie viele ihrer Ideale verraten haben.
[…] Ihr Pazifismus wurde von Anfang an auf der Strecke gelassen.
Tilo Jung von „Jung und Naiv“ (Zinkant 2020, 33:40)
These 8: Sollten die Grünen bei der nächsten Bundestagswahl in die Regierung kommen, wären sie gut beraten mit den linken Parteien zu koalieren. Ein Bündnis mit einer sich verzweifelt nach rechts abgrenzenden CDU wäre nicht nachhaltig. Die Grünen riskieren ihre Gestaltungsunfähigkeit in der Regierung und den anschließenden Absturz. Ein Blick nach Österreich kann ihr helfen. Zumal zentrale Forderungen des aktuellen Wahlprogramms wohl nur mit einer Grün-Rot-Roten Koalition umgesetzt werden könnten.
Nach der Wahl im Oktober diesen Jahres wird es spannend werden, welche der Positionen sich durchsetzt – das Versprechen von Habeck oder die „Anpassung“ an die Realität von Kretschmar.
„Macht funktioniert heute nicht mehr so wie in den 1980er Jahren.
Das ist wohl die Welt von der noch einige träumen,
die sich auf die Brust klopfen, an Zäunen rütteln um irgendwo reinzukommen,
herrische Ansagen machen
und das ganze bei zwei gepflegten Weißweinflaschen am Abend ausklingen lassen.
Und das ist dann Politik.“
Robert Habeck (Zinkant 2020 41:40)
„Wenn man regiert, regiert man.
Dann werden die Worte zu Taten
und dann ist Schluss mit irgendwelchen Lebenslügen.
Das ist halt so, da muss man dann durch.
Winfried Kretschmann (Zinkant 2020 43:50)
Literaturverzeichnis
Böldt, Daniel (2022): „Deutschland hat den ersten AfD Oberbürgermeister“. In: Tagesspiegel, 24.10.2022.
El-Safadi, Majd (2020): Joschkas Kinder. Annalena und die Außenpolitik. WeltTrends – Das außenpolitische Journal Nr. 176.
Gallagher, Conor (2023): How Did the German Greens Become the Party of Warmongers?. nakedcapitalism.com.
Johnstone, Diana (2021): Die Olivgrünen. In: Rubikon, 15.05.2021.
May, Philipp (2021): Habeck (Grüne) zu Waffenlieferungen an Ukraine. „Die Ukraine fühlt sich sicherheitspolitisch alleingelassen.“ Deutschlandfunk.
Mühlebach, Robin (2022): Boris Palmer gewinnt parteilos in Tübingen. In: Bild.de, 24.10.2022.
Ruf, Christoph (2022): Boris Palmer. Ein hartnäckiger Provokateur. In: neues deutschland, 12.10.2022.
Soldt, Rüdiger (2020): Ein politischer Paukenschlag in Stuttgart. Kuhn hört auf. In: FAZ, 07.01.2020.
Wilke, Peter (2021): Jüdischer Gottesdienst in Berlin. „Hamas-Angriffe sind Mordversuche auf schlafende Kinder“. Bild online.
Zinkant, Annette (2020): Die Grünen werden 40 – Karriere einer Partei. Weitere Beteiligte: Thomas Michel und Britta Windhoff. Annette Zinkant (Regie): Bildersturm Filmproduktion, Eco Media TV-Produktion.
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