Am 21. Mai 20225 stritt im rotbloq der Arbeitskreis Frieden zur Wehrpflicht. Damit sollten sowohl Neumitglieder der LINKEN aktiviert als auch die inhaltliche Diskussion im Bereich der Friedens- und Sicherheitspolitik vorangetrieben werden.
Interessantes Diskussionsformat
Mit zugelosten Rollen bezogen Prof. Jürgen Angelow und Kai Kleinwächter in einem Streitgespräch Stellung. Der letztere als Gegner der Wehrpflicht – Angelow als „advocatus diaboli“ plädierte für die Einführung. Damit das Streitgespräche an Dynamik gewinnt wurde eine Schachuhr bereitgestellt. Jede Seite hatte nur 15 Minuten – danach war Schluss. Interessanterweise musste der Moderator Bernhard Bielicke nicht eingreifen. Es wurde eine zeitliche Punktlandung. Der Zeitdruck tat der Diskussion gut. Anstatt ein / zwei Argumente auszuwalzen, brachten viele ein und spitzten sie zu.
Die folgenden vier Thesen sind der Beginn eines Nachdenkens über das Thema Wehrpflicht:
1. Welche Wehrpflicht konkret?
Im Laufe der letzten 200 Jahren entstanden zahlreiche Modelle der Wehrpflicht. Nur wenige überdauerten die Zeit. Es ist eine Institution, die einer ständigen Wandlung unterworfen ist. Dabei unterscheidet sich die konkreten Ausgestaltungen teils deutlich. Die eine Wehrpflicht gibt es nicht. Ein (leider etwas älterer) Überblick über die weltweiten Modelle der Wehrpflicht findet sich hier. (Tiesbohnenkamp 2011)
Zentrale Indikatoren zur Unterscheidung sind u.a. Anzahl und Geschlecht der Eingezogenen, Dauer, Auswahlverfahren, Grad der Freiwilligkeit, Ausgestaltung „ziviler“ Alternativen, Art und Umfang der Vergütung, Verpflichtungen über die Dienstzeit hinaus, Zugang zu den Waffengattungen sowie Abgrenzung zu den Berufssoldaten und Einsatz bei militärischen Einsätzen.
2. Nennung des Modells notwendig
Die Vielfalt der Modelle führt zu einer wichtigen Konsequenz: In Diskussionen über Wehrpflicht muss immer das konkrete Modell quantifiziert werden. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob wie in Schweden „nur“ bis zu zehn Prozent eines Jahrgangs an ausgewählter Rekruten für maximal zwölf Monate gezogen werden (Egleder 2024), oder wie in Israel eine nahezu vollständige Dienstpflicht für bis zu drei Jahre inklusive verpflichtender Beteiligungen an Militäroperationen durchgesetzt wird (Bachmann und Bolotinsky 2024).
Ohne ein konkretes Modell mutiert die politische Diskussion zum Schattenboxen. Alle Seiten können sich (fast) jedem Argument entziehen bzw. bedienen, mit dem Hinweis, dass dieses und jenes ja überhaupt nicht vorkommt oder definitiv umgesetzt wird. Die Diskussion wird dann fruchtlos. Es stehen Horrorszenarien einer Totalmobilisierung mit direkten Transfer von der Schule an die russische Grenze gegen schöne Geschichten über Kameradschaft, Berufs- und Entwicklungschancen einer kleinen Anzahl freiwilliger Friedensboten.
Versuchen Sie einmal selbst, anhand des folgendes Zitates aus dem Koalitionsvertrag, ein Modell einer zukünftigen Wehrpflicht in Deutschland abzuleiten. Es ist mehr eine Kombination von politischen Annahmen und Schlussfolgern aus nicht gesagtem, als wirkliches Wissen.
„Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert. Für die neue Ausgestaltung dieses Dienstes sind die Kriterien Attraktivität, Sinnhaftigkeit und Beitrag zur Aufwuchsfähigkeit leitend. Wertschätzung durch anspruchsvollen Dienst, verbunden mit Qualifikationsmöglichkeiten, werden die Bereitschaft zum Wehrdienst dauerhaft steigern. Wir orientieren uns dabei am schwedischen Wehrdienstmodell. Wir werden noch in diesem Jahr die Voraussetzungen für eine Wehrerfassung und Wehrüberwachung schaffen.“
Koalitionsvertrag CDU CSU und SPD 2025 (Zeile 4190 bis 4154)
Von nicht weniger Akteuren wird diese Unbestimmtheit als Vorteil gesehen. Differenzierungen und Knackpunkte verschwimmen. So bleibt die Diskussion im Vagen. Die Erzeugung von Konsens, egal ob Pro- oder Contra-Wehrplicht, fällt leichter.
3. Diskutierte Wehrpflicht-„Modelle“
Derzeit werden in Deutschland drei Varianten einer möglichen Wehrpflicht diskutiert. (AFP 2024) Diese als Modelle zu bezeichnen geht zu weit. Zu unkonkret sind Details – zu vage die Zeitpläne – zu unsicher die politischen Aussichten auf Realisierung. Aber es deuten sich an:
A) Optimierung Status Quo: Ausbau Freiwilliger Dienst für alle Geschlechter
B) Teilwehrpflicht: Verpflichtender Fragebogen und Auswahl durch Bundeswehr für Männer
C) Maximalvariante: Verpflichtende Dienstplicht für Männer und Frauen
In den zitierten Berichten wird von mehreren Stufen bei den Einführungen geredet. Bis auf Variante A könnte wohl kein Modell innerhalb von ein/zwei Jahren eingeführt werden. Hier sind auch die derzeitigen Kräfteverhältnisse im Bundestag zu beachten. SPD und Union verfügen nur über instabile Mehrheiten. (Kleinwächter 2025a) Auf Grund unterschiedlicher Positionen innerhalb der Parteien, könnten bei Kampfabstimmungen entscheidende Stimmen fehlen, wie die turbulente Kanzlerwahl deutlich zeigte. (Kleinwächter 2025b)
Ebenfalls bräuchte es für jede Grundgesetzänderung die Stimmen der AfD und/oder der LINKEN. Die einen sind nicht als Verbündete gewollt – die anderen lehnen Änderungen in Richtung Wehrpflicht ab. Damit ist Variante C eigentlich nicht durchsetzbar. Um Frauen zu erfassen, braucht es eine Änderung des Grundgesetzes. Aber um auf den Koalitionsvertrag zurückzukommen: Das dort angesprochene schwedische Modell beruht auf einer Dienstpflicht für beide Geschlechter.
Bei der Diskussion um die Wehrpflicht ist also immer auch entscheidend, was überhaupt durchgesetzt werden kann. Wo liegen realistische Kompromisse und was ist nur Wahlkampfgetöse? Natürlich darf man sich keinen Illusionen hingeben. Selbst jahrhundertlange Traditionen können enden – wie Aufgabe der skandinavischen Neutralität zeigt.
4. Wehrpflicht wird von anderen Feldern bestimmt
In der Diskussion fiel auf, dass die Wehrpflicht nicht isoliert betrachtet werden kann. Sie ist eng verknüpft mit mindestens drei übergeordneten Themenfeldern. Diese bestimmen die Parameter der Wehrpflicht und nicht andersrum.
Das erste Feld ist Konzept und Ausrichtung der Sicherheitspolitik. So folgt aus Größe und Art der Armee, der Bedarf an Wehrpflichtigen. Dabei leitet sich die Struktur der Armee aus deren Aufgaben und Einsatzszenarien ab.
Soll die Armee
… nur die Verteidigung im Falle von Terrorangriffen und Naturkatastrophen sicherstellen?
… zur globalen Bekämpfung feindlicher Strukturen sowie Nation-Building fähig sein?
… im Alleingang einen Großkrieg mit Russland bestehen können?
Je nach Aufgabenstellung der Armee gestaltet sich die Wehrpflicht anders. So läge der Fokus bei der ersten Ausrichtung auf ziviler Verteidigung (siehe Schweden), beim zweiten auf der Rekrutierung spezialisierter Berufssoldat und bei letzterem auf der Ausbildung von im Gefechtsverbund operierenden Massenarmeen. Die Diskussion um die Wehrpflicht ist ein Teilaspekt um das Ringen zukünftiger Außen- und Sicherheitspolitik.
Das zweite Feld sind die politischen Grundwerte. Wie hoch werden individuelle Freiheiten im Verhältnis zu kollektiven Interessen gewichtet? Wie ist die Einstellung gegenüber der staatlichen Anwendung von Gewalt? Wird diese begrüßt, als notwendiges Übel betrachtet oder gar völlig abgelehnt?
Zentral ist hier die Einstellung zur nationalen Souveränität. Stehen die USA, Frankreich, Polen … zu ihren Versprechen? Oder ist Deutschland alleine? Tendenziell gilt, je größer das Mistrauen gegenüber (Elementen) kollektiver Sicherheitssystemen wie UNO / Völkerrecht, EU oder der NATO, umso eher wird die Notwendigkeit einer eigenständigen Wehrfähigkeit betont.
Das dritte Feld ist die Wahrnehmung aktueller und zukünftiger außenpolitischen außenpolitischer Risiken. Wird Russland versuchen die EU anzugreifen? Droht ein Krieg um Taiwan? Kommt es zu einer Eskalation im Nahen Osten? Je mehr solche Szenarien befürchtet werden, umso eher wird eine Wehrpflicht positiv gesehen.
Schlussfolgerungen
Die Diskussion um die Wehrpflicht ist hochgradig politisch und eignet sich zur Mobilisierung. Aber sie ist oft nur Oberfläche. Die eigentliche Diskussion dreht sich um Fragen der Bewertung außenpolitischer Risiken, der Ausgestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik sowie den politischen Grundwerten. Zukünftige Diskussionsrunden müssten dem Rechnung tragen.
Bildangaben: Startbild: Wikimedia.org (2025): Conscription map of the world.svg; Autor: Mysid; Lizenz: Public Domain. Angepasst durch Kai Kleinwächter (zeitgedanken.blog).
Literaturverzeichnis
AFP (Hg.) (2024): Von Optimierungen bis hin zur Pflicht für alle. Diese drei Wehrdienst-Modelle liegen Pistorius zur Entscheidung vor. Berlin: Tagesspiegel.
Bachmann, Anna-Theresa; Bolotinsky, Avi (2024): Krieg oder Gefängnis? In: fluter, 13.11.2024.
CDU CSU und SPD (Hg.) (2025): Verantwortung für Deutschland. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 21. Legislaturperiode.
Egleder, Julia (2024): Wehrdienst wie in Schweden? Bonn: Hg. v. Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr; loyal das Magazin.
Kleinwächter, Kai (2025a): Deutschland – Ende des bekannten Parteiensystems. Potsdam: zeitgedanken.blog.
Kleinwächter, Kai (2025b): Kanzler im zweiten Anlauf – Die neue Realität! Potsdam: zeitgedanken.blog.
Tiesbohnenkamp, Werner (2011): Modelle Wehrpflicht 2011. Gütersloh: laenderdaten.de.
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