Fünf Kurz-Thesen zur Kanzlerwahl von Friedrich Merz.
1. Bei der Kanzler-Wahl von Friedrich Merz zeigt sich, wie instabil die aktuellen Machtverhältnisse sind. Im ersten Wahlgang erhielt er nicht die erforderliche Mehrheit. Eigentlich haben Union und SPD zusammen 328 Stimmen im Bundestag. Nur 310 stimmten für Merz – 6 weniger als die erforderliche Mehrheit. 18 Stimmen fehlten insgesamt. Das ein Kanzlerkandidat mit einer Mehrheit im Parlament seine Wahl verliert, kam bisher in der BRD noch nie vor. Symbolisch ist das ein denkbar schlechter Start.
2. Befremdlich an dem Vorgang ist, dass die Regierung davon wohl völlig überrascht wurde. Alle drei Parteispitzen waren auf eine gescheiterte Abstimmung nicht vorbereitet. Sie nahmen schlicht an, dass es nicht passieren würde. Laut Bild.de verfügte nur der oft belächelte und unterschätzte Alexander Dobrindt (CSU) über eine Telefonnummer zur Spitze der LINKEN, mit deren Stimmen ein zweiter Wahlgang am gleichen Tag möglich wurde. (Tiede und Uhlenbroich 2025) Die Lehre: Friedrich Merz und sein Team sind unzureichend vernetzt und besitzen nur ein geringes Gespür für die Stimmungslage in den eigenen Fraktionen. Aber Empathie war noch nie die Stärke des Friedrich Merz. (Hübner 2025)
3. Die Stimmverweigerer sind schwer auszumachen – zumal sie sich nicht öffentlich positionieren. Es gibt zu viele Unzufriedene (Weiermann 2025) – sei es auf Seiten der Union beim Thema Schuldenbremse, sei auf Seiten der Sozialdemokratie beim Thema Migration und der Unions-Abstimmung mit der AfD. Der Aufruf der Jusos den Koalitionsvertrag abzulehnen, trug sicher auch nicht positiv zum Wahlergebnis bei. Hinzu kommen einige gut vernetzte Spitzenpolitiker*innen, deren Karriere durch die Koalitionäre beendet wurden.
Das im zweiten Wahlgang die Stimmen reichten, zeigt, dass es hier weniger um Grundsatzfragen als um einen Warnschuss ging. Und der hat gesessen. Die Macht des neuen Kanzlers wird begrenzt sein. Sollte es in Zukunft zu Kampfabstimmungen in harten Fragen kommen, könnte diese Regierung schnell am Ende sein. Zumal wenn Merz und seine Minister nicht ihr Gespür für das Meinungsbild im Parlament bzw. den Fraktionen verbessern.
4. In der vierten Phase des Parteien-System der Bundesrepublik (Kleinwaechter 2025), lassen sich die „Brandmauern“ nach rechts und links nicht aufrecht erhalten. Dazu fehlen Union und SPD schlicht die Stimmen im Parlament. Dass die Union auch bereit ist, Mehrheiten mit der AfD zu erzielen, wurde schon im Januar offensichtlich. Jetzt brauchte es eine Kooperation mit der LINKEN. Ohne deren Stimmen wäre kein zweiter Wahlgang am Dienstag möglich gewesen. Und die Union wollte nicht schon wieder auf die AfD zugehen.
Es wird weitere solcher Deals in den nächsten Jahren geben. Die Sachzwänge der Realpolitik werden sie diktieren. Der nächste lugt schon um die Ecke:
Erste Kooperation mit der LINKEN? Besetzung Bundesverfassungsgericht
Mindestens drei Richter*innen beim Bundesverfassungsgericht scheiden dieses Jahr aus – sei es aus gesundheitlichen Gründen oder weil ihre zwölfjährige Amtszeit endet. Eine Wiederwahl ist nicht möglich. Für jede Berufung braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag. Ohne Stimmen der LINKEN und / oder der AfD geht es nicht mehr. Es sei denn das Verfahren zur Berufung würde geändert. Dieser Weg wird zwar diskutiert, hat aber wohl kaum Aussicht auf Erfolg. Er ist (derzeit) weder gewollt noch politisch vorteilhaft.
Vor den 1990er Jahren teilten SPD und Union die Richterposten unter sich auf. Inzwischen gibt es für jede der beiden Kammern die Einteilung drei Richter für die SPD, drei für die Union sowie FDP und Grüne je einen. Jetzt wird wohl die LINKE mindestens einen Posten bekommen – wahrscheinlich auf Kosten der SPD. Die Gespräche mit Ines Schwerdtner laufen bereits. Die Alternative: Die AfD bot an, den Juristen Ulrich Vosgerau zu entsenden. Dieser vertrat die AfD regelmäßig vor dem Bundesverfassungsgericht. Quelle für den Absatz: Hipp 2025.
Insgesamt verschärfen sich die Herausforderungen des neuen politischen Systems – nicht nur für die Regierungsparteien. Die Fähigkeit wechselnde (Partei-)Koalitionen bilden zu können, entscheidet immer mehr über den politischen Erfolg von Parteien. Daraus ergeben sich Fragen:
– Wie sind kontinuierliche Kooperationen mit allen(!) Parteien möglich?
– Wie weit kann dabei jede Partei inhaltlich gehen, ohne Profil und Wähler zu verlieren?
– Wie formalisiert ist die Zusammenarbeit mit welcher Partei?
„Wir werden gemeinsam darüber zu sprechen haben. [Der Beschluss eines CDU-Parteitags von 2018 kann nicht per Federstrich außer Kraft gesetzt werden.] Aber mit Sicherheit sind wir in einer Situation, wo wir die eine oder andere Frage neu bewerten müssen“
Thorsten Frei (Chef Kanzleramt) (Zeit Online 2025)
Das Granteln aus Bayern von Markus Söder – vermittelt per Bild-Interview ist mehr streicheln der konservativen Seele als Realpolitik. (Uhlenbroich und Kain 2025) Es darf nicht vergessen werden: Das Spitzenpersonal der CSU fädelte den Deal mit den LINKEN ein.
5. Bei aller Aufregung muss die Niederlage von Friedrich Merz nüchtern betrachtet werden. Sie ist kein „Desaster“ wie Spiegel (Fiedler 2025) und mit gleichem Tenor andere Medien titeln. Zumal er im zweiten Wahlgang Kanzler wurde, und jetzt alle formale Macht für sich und seine Regierung besitzt.
Die Wahlniederlage zeigt die neuen Realitäten einer Berliner Republik, in der selbst SPD und Union über keine 100%-gesicherten Mehrheiten mehr verfügen. Das eröffnet Möglichkeiten einer Erneuerung des politischen Systems – neue Mehrheiten für neue Lösungen jenseits eingetretener Pfade. Sicherlich ist das eine idealistische Sichtweise – aber besser so, als einer Vergangenheit hinterher zu trauern, die nicht wieder kommt.
„Die Fassade hat einen Sprung, der sich nicht mehr kitten lässt.
Aber das muss nicht schlecht sein.
Denn ohne Schmerzen wird es keine Erneuerung geben
– ohne Wirklichkeit im Bundestag auch keine gute Politik.“
Moritz Eichhorn (2025)
Literaturverzeichnis
Eichhorn, Moritz (2025): Schlimm für Merz, aber nicht für Deutschland. Warum die selbsternannte Mitte die Kontrolle verlieren musste. In: Berliner Zeitung, 06.05.2025.
Fiedler, Maria (2025): Sechs Lehren aus dem Stolperstart von Merz. In: Spiegel, 06.05.2025.
Hipp, Dietmar (2025): Warum die Linke wohl erstmals einen Bundesverfassungsrichter stellen wird. In: Spiegel, 30.05.2025.
Hübner, Wolfgang (2025): Das kalte Herz des Bürgertums. In: Neues Deutschland, 07.05.2025, S. 4.
Kleinwaechter, Kai (2025): Deutschland – Ende des bekannten Parteiensystems. zeitgedanken.blog. Potsdam.
Tiede, Peter; Uhlenbroich, Burkhard (2025): Dobrindt rettete Merz die Kanzlerschaft. Alexander, der Königsmacher. In: Bild.de, 06.05.2025.
Uhlenbroich, Burkhard; Kain, Florian (2025): Union diskutiert über Brandmauer. Söder „gruselt“ sich vor Zusammenarbeit mit Linken. In: Bild.de, 10.05.2025.
Weiermann, Sebastian (2025): Nur kurze Schadenfreude. In: Neues Deutschland, 07.05.2025, S. 1.
Zeit Online (Hg.) (2025): CDU will Verhältnis zur Linken überdenken. Hamburg.
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