Deutschland – Ende des bekannten Parteiensystems

Der folgende Text basiert auf einen Vortrag bei Rotfuchs Potsdam am 24. März 2025. Drei Thesen zur Bundestagswahl.

1. These: Keine Mehrheit der alten Großparteien

Das politische Parteiensystem Deutschlands befindet sich seit Mitte der 2000er Jahre in seiner vierten Phase. Es beruht seit der Gründung der BRD auf der Dominanz von vier Parteien – SPD, CDU, CSU und FDP. Wird der Anteil der Stimmen im Bundestag als Indikator genommen, gab es erst eine „Konsolidierung“ (1949 bis 1953), dann eine „Dominanz“ (1953 bis 2005) und einem schleichenden „Niedergang“ von (2005 bis 2021). Die aktuelle Phase kann als „Auflösung“ bezeichnet werden. Für die Beschreibung der Phasen vgl. „Erosion deutscher Wahldemokratie“ (Kleinwaechter 2018).


Die vierte Phase ist gekennzeichnet durch das Ende des alten Vier-Parteiensystems SPD-Union-FDP. In der Bundestagswahl 2025 bestätigt sich diese Entwicklung. So schaffte die FDP zum zweiten Mal nicht den Einzug in den Bundestag. Ob ihr eine Rückkehr gelingt ist ungewiss. Ein zweiter Lindner ist nicht in Sicht.

Noch schwerer wiegt eine andere Entwicklung. Die „Volksparteien“ SPD und CDU/CSU repräsentieren inzwischen nicht einmal mehr die Hälfte aller Wähler. In der Hochphase konnte jede „große Koalition“ genügend Stimmen auf sich vereinen, um Änderungen des Grundgesetzes im Alleingang durchzubringen. Auf Kooperation mit anderen Parteien waren sie im Bundestag von 1953 bis 2005 und im Bundesrat von 1965 bis 2011 nicht angewiesen. Seitdem haben, wenn größere Parteien nicht an der 5%-Hürde scheitern, Union und SPD keine (alleinigen) Mehrheiten mehr für eine Änderung des Grundgesetzes. Aber zumindest war eine Mehrheit der Stimmen für einfache Gesetze gesichert.

Seit 2021 liegt ihr gemeinsamer Stimmenanteil im Bundestag bei unter 50 Prozent. Was als Tiefpunkt der Entwicklung fehlgedeutet wurde, hat sich jetzt deutlich verschärft. Mit 44,5 Prozent verfügen die Parteien der (west-)deutschen bürgerlichen Mitte über keine strukturellen Mehrheiten mehr. Die SPD erzielte ihr schlechtestes Ergebnis in der BRD. Für die Union war es das zweitschlechteste. Die GROKO kann nur regieren, weil FDP und BSW nicht die 5-Prozent-Hürde schafften. Wäre nur eine dieser beiden Parteien reingekommen, hätten SPD und Union keine Mehrheit der Stimmen im Bundestag.

Der Höhepunkt ihrer Macht in den 1960er und 1980er Jahren ist nur noch eine Erinnerung – mehr Mythos als bewusster Fakt. Kaum jemand kann sich heute vorstellen, dass SPD und die Unions-Parteien damals zwischen 85 und 91 Prozent der Stimmen auf sich vereinigten und die BRD kurz davor stand, ein Zwei-Parteien-System zu werden.

Machtverlust auch auf Länderebene

Eine vergleichbare Entwicklung vollzieht sich auf Länderebene. Auch dort dominierten SPD, CDU, CSU und FDP fast fünf Jahrzehnte lang. Aber die hohen Stimmenanteile von 2006 bis 2009 waren bereits einer Zunahme großer Koalitionen geschuldet. Die Anteile bei den Wählern gingen bereits deutlich zurück. Seit spätestens 2014 haben die alten Parteien auch in der Länderkammer keine strukturellen Mehrheiten mehr.


In den Ländern gibt es inzwischen einen bunten Mix an Koalitionen. Die Dominanz der alten Parteien ist nicht mehr gegeben. Teilweise reicht es selbst bei einem Zusammenschluss von CDU und SPD nur für eine Minderheitsregierung – wie in Sachsen.


2. These: Allzeithoch nicht-repräsentierter Erwachsener

Bei der Bundestagswahl 2025 verfehlten BSW und FDP knapp die 5-Prozent-Hürde. Allein dadurch sind fast 10 Prozent der abgegebenen Stimmen nicht im Bundestag vertretenen. Ebenfalls scheiterten viele Kleinstparteien an der Hürde. Entsprechend stieg der Anteil „gelöschter Stimmen“ auf 14 Prozent.

Zu diesem Allzeithoch kommt ein weiterer Rekord. In Deutschland leben inzwischen über 10 Mio. volljährige Ausländer die kein Wahlrecht für den Bundestag haben. (Statistisches Bundesamt 2024) Das entspricht etwas über 16 Prozent der Wahlberechtigten. Ebenfalls machten 17,5 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch.

Zusammen repräsentieren die drei Gruppen (Nichtwähler, nicht-wahlberechtigte Ausländer, An-der-Fünf-Prozent-Hürde-Gescheiterte) fast die Hälfte aller (potentiellen) Wähler Deutschlands. Ein Wert der seit 2009 normal ist. Es verfestigt sich ein politisches System, in denen große Teile der Bevölkerung nicht mehr repräsentiert werden.


Sinkende politische Mitbestimmung

Es ist sehr idealistisch anzunehmen, dass Abgeordnete Politik für das ganze Volk betreiben, und nicht primär für Wählergruppen, von denen sie gewählt wurden. Politische Positionen, die unzureichend oder sogar gar nicht im Parlament vertreten sind, können sich kaum durchsetzen.

Hinzu kommt ein Systemfehler des neuen Wahlrechts. 23 Wahlkreise sind im jetzigen Bundestags nicht mehr durch Direktkandidaten vertreten. Diese Wahlkreise haben nun einen schwächeren Einfluss auf die Gestaltung von Gesetzen, die Verteilung von Fördergeldern etc. Eine Unwucht, die politisch nicht zu unterschätzen ist. Zumal die propagierten „Adoptionsmodelle“ bzw. die Vertretungen über Landeslisten außerhalb politik- und staatsnaher Kreise kaum überzeugen. (Kühne 2025) In Deutschland dominiert eine Gewaltenverschränkung. Die Regierung geht aus dem Parlament hervor, nicht aus einer Direktwahl durch das Volk. Wahlkreise die keinen eigenen Abgeordneten haben, werden hierbei nicht gleichwertig gehört.

Auch die Repräsentanz von Ostdeutschen im Parlament bzw. der Regierung muss kritisch gesehen werden. In die von Unions-Seite her deutlich konservativeren Regierung werden keine Anhänger von (der ostdeutschen) Angela Merkel sowie wohl nur eine Ostdeutsche berufen. (Frielinghaus 2025) Katharina Reiche – wohnhaft im Westen und inzwischen liiert mit dem westdeutschen Vorzeige Konservativen von Guttenberg (Gollnow 2025). Zufall, dass gerade jetzt das Wirtschaftsministerium wesentliche Kompetenzen zu Gunsten des Kanzleramtes verliert?

Ist Deutschland eine Massen-Demokratie?

Jedes einzelne der obigen Argumente ist diskutabel. Aber zusammen genommen drängt sich eine systemrelevante Frage auf: Wieviel Prozent der Bevölkerung müssen im Parlament bzw. der Regierung mindestens repräsentiert sein, damit ein politisches System als (Massen-)Demokratie legitimiert ist?

Dafür gibt es keine feste Grenze. Aber der jetzige Zustand ist auf Dauer kaum durchhaltbar. Zumal selbst der 50-Prozent-Wert zu reißen droht. Wenn es bis zur nächsten Bundestagswahl nicht zu einer Konsolidierung des Parteisystems kommt, zu keiner Reduzierung der nicht-wahlberechtigten ausländischen Bevölkerung und/oder einer Stabilisierung der Wahlbeteiligung droht ein Bundestag, der nicht mehr von der Mehrheit der Bevölkerung gewählt wurde. Wäre das noch eine lupenreine Demokratie?

Politische Maßnahmen dieses Szenario nicht eintreten zu lassen werden diskutiert. So kann die Forderung das Wahlalter abzusenken auch unter diesem Aspekt diskutiert werden. Oder nicht-wahlberechtigte Ausländer: Sowohl die Liberalisierung der Staatsbürgerschaft als auch die Zielstellung eine größere Anzahl abzuschieben, können als gegensätzliche Ansätze verstanden werden, den Anteil von Ausländern an der (Wahl-)Bevölkerung zu reduzieren.

Interessant ist aber, dass es insbesondere zur Frage der Nicht-Wähler merklich still geworden ist. Bei der letzten Bundestagswahl war es noch ein heiß diskutiert – jetzt dominiert fast völlige Ruhe. Lag es auch daran, dass die Mobilisierung der Wähler kaum den „Parteien der Mitte“ zugute kam?

3. Machterhalt um jeden Preis

Die jetzige Bundesregierung ist möglicherweise der letzte Versuch einer (westdeutschen) bürgerlichen Mitte ihren schwindenden Einfluss zu erhalten. Sie kämpft um ihre politische Zukunft. Union und SPD sind angetreten eine Rückkehr zum Zustand vor 2021 um jeden Preis herbeizuführen. Darum auch der massive Bruch mit den eigenen Wahlversprechen. Die durchgezogene Reform der Schuldenbremse ist der Versuch eines (finanzpolitischen) Befreiungsschlages. Probleme sollen auch mit Geld zugeschüttet werden. Ob es gelingt ist mehr als offen. Zumal die jetztigen Kabinettszuschnitte darauf ausgerichtet sind, den Einfluss des Kanzleramtes weiter auszubauen. Schon bisher ist eine Überforderung erkennbar. Diese wird zunehmen.

Literaturverzeichnis

Bundesrat (Hrsg.) (2025): Archiv. Zusammensetzung des Bundesrates. Berlin.

David, Olivier (2025): Unglaubwürdiges Interesse an den Wählern. In: Neues Deutschland, 19.02.2025, S. 8.

Fischer, Thomas (2025): Demokratie und Wahlrecht. Was wir wählen – und was nicht. In: Spiegel, 30.05.2025.

Frielinghaus, Jana (2025): Wirtschaftslobby im Kabinett. Die Unionsparteien vergeben die Ministerposten an Erzkonservative und Neoliberale. In: Neues Deutschland, 29.04.2025, S. 5.

Gollnow, Sebastian (2025): Katherina Reiche und zu Guttenberg sind ein Paar! In: Bild.de, 28.04.2025.

Kleinwaechter, Kai (2018): Erosion deutscher Wahl-Demokratie. zeitgedanken.blog. Potsdam.

Kotlyarova, Liudmila (2025): Verzwergtes Wirtschaftsministerium: Merz setzt riskantes Signal für Deutschland. In: Berliner Zeitung, 28.04.2025.

Kühne, Christoph (2025): Neues Wahlrecht. „Verwaiste“ Wahlkreise: Welche Gebiete nicht mehr im Bundestag vertreten sind. In: RND.de, 24.02.2025.

Statistisches Bundesamt (Hg.) (2024): Pressemitteilung Nr. 476 vom 17. Dezember 2024. 41 % der Volljährigen mit Einwanderungsgeschichte wären 2023 bei Bundestagswahlen wahlberechtigt gewesen.

Wahlrecht.de e. V.: Bundestagswahl am 23. Februar 2025. Bremen: wahlrecht.de.

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