Die multipolare Spaltung der Welt und Deutschlands Konfusion

Die gegenwärtige Bundesregierung aus SPD, FDP und Grünen versteht die globalen Umbrüche nicht. Statt eine eigenständige Position zu suchen und zu finden hat sie sich kritiklos auf den von den USA vorgegebenen Konfrontationskurs begeben.

Mörderische massenvernichtende Weltkriege, das Ende der Kolonialära und der Kalte West-Ost-Krieg dominierten das vorige Jahrhundert. Im Zentrum stand dabei der militä­rische Machtfaktor, als Kriegsführungs- und Abschreckungsin­strument zur Durchsetzung eigener Interessen. Die Herstellung eines nuklearstrategischen Gleichgewichts zwischen den Großmächten USA und Sowjetunion, mit der abschreckenden Realität einer »gegen­seitig gesicherten Zerstörung«, verhinderte einen Dritten Welt­krieg, aber nicht den ökonomischen und politischen Kollaps des sozialistischen Konkurrenzsystems. Vielfältige Regionalkriege wurden geführt – Korea, Vietnam, Naher-/Mittlerer Osten, Afghanistan, Balkan usw. – deren Zielstellungen seitens der Großmächte jedoch weitgehend scheiterten.

Die atomare Pattsituation bleibt im 21. Jahrhun­dert erhalten. Auch Regionalkriege werden weiterhin geführt: Afghanistan 2001-2021, Russland-Ukraine seit 2022, Israel-Palästina/Hamas 2023 … Entscheidend aber ist: Der Schwerpunkt imperialer Großkriege hat sich verscho­ben. Die Weltkriege dieses Jahrhunderts werden als Wirtschafts- beziehungsweise Sanktionskriege geführt. Der Russland-Ukraine-Krieg ist dafür ein typisches Beispiel. Er wird seitens des »Westens« unter Füh­rung der USA als Hebel für die Initiierung eines Niederrüstens und Wirtschaftskrieges instrumentalisiert, um die westliche Dominanz im Kampf gegen eine globale Multipolarität zu erhalten und durchzusetzen.

Imperiale Konkurrenz – Globaler Systemkampf

Der entscheidende Unterschied im »Systemkampf« des 21. Jahrhunderts ist somit das globale ökonomische Kräfte­verhältnis, seine Entwicklung und Dynamik. Eine „Siegoption zulasten der anderen Seite“ ist dabei für die Hauptakteure ausge­schlossen. Es können nur alle gemeinsam in friedlicher Koexistenz gewinnen oder ange­sichts der nichtlösbaren globalen Probleme ihrem Niedergang entgegengehen. Die düsteren Orakel des Club of Rome aus den 1970er Jahren stehen an der Wand: fragiler Wohlstand, anhaltende Stagnation, unberechenbarer Abstieg.

UNO-Generalsekretär António Guterres warnte in seiner Eröffnungsrede zur 78. UN-vollversammlung, am 19. September 2023 vor den tiefen Gräben zwischen den größten Wirtschafts- und Militärmächten, zwischen Ost und West sowie zwischen rei­chen Staaten und Entwicklungsländern. »Wir nähern uns immer mehr einem großen Bruch der Wirtschafts- und Finanzsysteme sowie der Handelsbeziehungen.« Die Weltwirtschaftsbeziehungen werden ökonomisch, technologisch, finanziell und bündnis­politisch zerrissen.

Die globale Politik im 21. Jahrhundert ist geprägt durch eine widerspruchsvolle Multipolarität. Ideologiegetrie­ben wurden dabei innerhalb von 20 Jahren aus strategischen Partnern des Westens Wettbewerber, Konkurrenten, letztlich Systemgegner, die ökonomisch mit Sanktionen zu schwächen und zu isolieren sind. Es entwickelt sich eine vielschichtige globale Lagerbildung.  Die zwei mächtigsten Kontrahenten sind dabei der „Westen“ (G7, NATO, EU) unter der Ägide einer problematischen „USA-First-Politik“, in Konfrontation zum aufsteigenden „Osten/Süden“ (BRICS, Shanghai-Gruppe) mit dem kontinentalen Kern- und Großraum der Wachstumsökonomie Chinas im Verbund mit der Energie- und Rohstoffmacht Russland (siehe Tabelle).

Die historische Grundtendenz, die ökonomisch-technologischen Entwicklungen sowie die politischen Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in den letzten Jahrzehnten sind gegenläufig. Eine sich zuspitzende konfrontative Bipolarität der Hauptmächte USA versus China sowie die zwischenimperialen Widersprüche auch innerhalb der Machtblöcke führen zu partiellen Einflussverlusten Russlands als auch der Europäischen Union. Dennoch ist der weltwirtschaftliche Sanktionskrieg »Westen versus Osten/Süden«, angesichts der Größenordnung, der Leistungspotentiale und dem Durchhaltevermögen beider Seiten nicht gewinnbar.

Die Weltbevölkerung wird in diesem Jahrhundert von acht auf circa zehn Milliarden anwachsen. Die Schwerpunkte liegen dabei im Bereich der »Süd-Regionen« – Indien, Südostasien, Afrika und Lateinamerika. Die Hauptproduktivkraft »Mensch« weist bereits gegenwärtig im Verhältnis der Staaten und ihrer Verbündeten »West versus Ost/Süd«, für den »Westen« ein ungünstiges Verhältnis von circa eins zu vier Milliarden aus, das sich weiter polarisieren wird. Bemerkenswert ist, dass China über 800 Millionen und Indien 400 Millionen Menschen aus der Armut geführt und Entwicklungschancen gegeben haben.

Hervorzuheben ist die Dynamik der aufholenden Wirtschaftsentwicklung wichtiger Ost-/Südstaaten gegenüber dem »Westen«. Von 1990 bis 2022 wuchs das globale Bruttoinlandprodukt (BIP) um das 4,5-Fache. Die BRICS-Staaten steigerten es im Verhältnis zum »Westen« um das circa Sechsfache. Insgesamt entwickelten sie sich im Verhältnis von 18:3. Allerdings verdeutlichen die 2022 noch vorhandenen absoluten Lücken von ca. 43 Prozent beim Weltanteil und der Wirtschaftskraft der BRICS im Vergleich zur G7 die Langfristigkeit der Aufholprozesse. Dramatischer ist die Problematik beim BIP pro Kopf mit einem Rückstand von ca. 80 Prozent. Der »entscheidende Zehn-Jahres Zeitraum«, den Biden und Putin aber auch die »Letzte Generation« und ihre Anhänger mehrfach postulierten, ist zu kurzsichtig kalkuliert. Strategisch sind für diese Aufholprozesse mehrere Jahrzehnte, wenn nicht sogar das 21. Jahrhunderts insgesamt, in den Blick zu nehmen.

Die Ergebnisse der internationalen Konferenzen – der G20, die Klimakonferenzen seit 2015, UNO-, NATO- und EU-Tagungen – dokumentieren eine sich verstärkende Konfrontation. Diese geht einher mit einer Zuspitzung globaler Probleme – Klimainstabilität, Hungerkatastrophen, Flüchtlingsströme, Wirtschaftskrisen, Energie- und Rohstoffknappheit, Massenverelendung, regionale Verteilungskriege – sowie ihrer katastrophalen Folgen, inklusive eines möglichen Scheiterns jeglicher Lösungsansätze. Die internationale Staatenwelt blockiert sich seit den 1990er Jahren.  

Konfuse Konzepte der Ampel-Koalition

Deutschland wurde durch den Russland-Ukraine-Krieg und die »Zeitenwende« neokonservativer Restauration in eine multiple Krise gestürzt. Wesentliche Ergebnisse jahrzehntelanger Entspannungs- und Wirtschaftspolitik, sozialer Stabilität, Rüstungsbegrenzung sowie Ansätze des ökologischen Gesellschaftsumbaus, wurden von der Ampel-Regierung in Frage gestellt und – im Widerspruch zu den Versprechungen von Scholz im Mai 2022 – zum Schaden Deutschlands und seiner Bevölkerung um Jahre zurückgeworfen.

Forderungen und Ambitionen nach einer größeren »Verantwortung« sowie »Führungsrolle« Deutschlands in der EU gehen an den historischen Erfahrungen, dem gegenwärtigen Integrationszustand der EU und den aktuellen Realitäten des Landes unter einer instabilen Ampelregierung vorbei. Im Gegenteil – das innenpolitische Konfliktpotential nimmt zu und führt zu ökonomischen, sozialen und politischen Krisen. Eine ökonomische Schwächung und fortschreitende politisch-soziale Destabilisierung Deutschlands sind nicht auszuschließen.

Die Regierung Deutschlands ist auch nach zweijähriger Amtszeit nicht in der Lage, das internationale Kräfteverhältnis, die Interessen unseres Landes mit Blick auf die Wirtschafts- und Gesellschaftssituation realistisch einzuschätzen sowie daraus durchsetzungsfähige innen- und außenpolitische Zukunftskonzepte zu entwickeln. Es rumort in der Ampel-Koalition, aber substanzielle Ergebnisse bleiben aus. Die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizierten in ihrer »Gemeinschaftsdiagnose« vom 29. September 2022, angesichts von Energiekrise, Inflation und Rezession »Wohlstandsverluste« für die nächsten Jahre.

Verspätet, am 4. Juni 2023, beschloss die Bundesregierung erstmals eine »Nationale Sicherheitsstrategie«. Kompatibel dazu, folgte ihr am 13. Juli desselben Jahres die China-Strategie. Ein zentrales Hauptziel, die Schaffung eines globalen Sanktions- und Boykottregimes zur »Isolation Russlands« sowie »Entkopplung Chinas«, auch unter dem Deckmantel eines »De-Risking«, ist westliches Wunschdenken und entspricht nicht den realen Kräfteverhältnissen.

Die Sicherheitsstrategie setzt auf eine Politik der Stärke und Dominanz bei der Lösung internationaler Aufgaben und Konflikte. Ihr liegt keine realistische Bedrohungsanalyse zugrunde, stattdessen ein Sammelsurium von Gemeinplätzen. Erster und oberster Grundsatz einer realistischen Sicherheitspolitik müsste die Kriegsverhinderung sein.

Jahrzehnte galt: Frieden ist der Ernstfall. Nun soll das Gegenteil gelten: Der (Ersatz)Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) fordert einen »Mentalitätswechsel«, »wir müssen wieder kriegstüchtig sein« und »wehrhaft«. Die Tendenzen hin zur Militarisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sind unübersehbar. Die Verteidigungs- und Rüstungspolitik wurde angesichts der Herausforderungen konzeptionell überarbeitet. Die Bundeswehr – nach 1995 von einer Verteidigungsarmee zur Armee im (Auslands-)Einsatz entwickelt – wurde in Neubewertung der Sicherheitslage in Europa reformiert und soll in den nächsten 10 bis 15 Jahren auf »klassische« Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtet werden.

Eine Anschubinvestition von 100 Milliarden Euro zur Neuausrüstung ist bewilligt, das »Zwei-Prozent-Ziel« der NATO und damit eine dauerhafte Steigerung des Rüstungshaushalts auf über 70 Milliarden Euro ab 2024 beschlossen. Waffentechnische Großprogramme im Gesamtspektrum von Heer, Luftwaffe und Marine sowie Cyberforce werden angeschoben. Kanzler Scholz hat den Aufbau eines Luftverteidigungssystems im Rahmen der EU-Kooperation vorgeschlagen.

Entscheidend: Verhältnis zu den USA

Von besonderer Bedeutung ist das Verhältnis Deutschlands zu den USA als politischer und militärischer Verbündeter, als ein Hauptwirtschaftspartner und auch imperialer Konkurrent. Durch die verstärkte transatlantische Orientierung der Ampelregierung stellen sich Fragen hinsichtlich der Souveränität Deutschlands und der Europäischen Union (EU) in der multipolaren Globalität. Diese Problematik wurde intensiv in Studien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) von 2013 und 2021 sowie der Bertelsmann Stiftung 2021 analysiert. Entsprechende Konzepte fanden aber nicht Eingang in die Politik der Ampel, die sich wie keine andere deutsche Regierung dem US-Kurs unterordnet.

Der Russland-Ukraine-Krieg spitzte die Situation zu. Kernaspekte sind seitdem die Verstärkung (statt Abzug) von US-Truppen aus Deutschland, eine Bekräftigung der (illusionären) nuklearen Teilhabe, die Modernisierung der Atombomben in Büchel sowie Neubeschaffung entsprechender Trägerflugzeuge, die Rolle Ramsteins als logistische Drehscheibe sowie die Schaffung eines neuen US-Führungskommandos bei der Koordinierung der Ukraine-Hochrüstung durch die Nato.

Deutschland ist ein Schlüsselland im Russland-Ukraine-Konflikt. Seitens der USA, der Nato und der osteuropäischen Verbündeten wurde massiver Druck ausgeübt, damit sich Deutschland, als ökonomisch stärkstes EU-Land, umfassend an der Unterstützung der Ukraine gegen Russland beteiligt (Sanktionsregime, Finanzierung, Waffenlieferungen). Die Ampel-Regierung ist mittlerweile im Rahmen der EU-Sanktionspolitik – bei Diffamierung, Ausbremsung und Abbruch der jahrzehntelangen erfolgreichen Kooperationsbeziehungen – selbst Initiator und aktiver Treiber der Anti-Russland-Konfrontation.

Fehlendes Verständnis in Berlin

Von den unerfahrenen Ministern und Ministerinnen der Ampel-Regierung wird dabei die geostrategische Neuaufstellung Russlands, mit ihren Konsequenzen auch für Deutschland, nicht verstanden. Mit Blick auf die Verschiebungen der globalen Kräfteverhältnisse, gibt Russland seine traditionelle »Europa-Orientierung« vergangener Jahrhunderte auf. Die Umorientierung auf Eurasien in strategischen Partnerschaften mit China (Freundschaftsvertrag 2001) und Indien (2000) sowie die Instrumentalisierung neuartiger Großorganisationen (1996/2001 Shanghai Organisation, 2009 BRICS), alternativ zu westlich dominierten Wirtschaftsinstitutionen, bestimmen die Prioritäten Russlands. Dabei stützt es sich vor allem auf seine Aktivposten als weltgrößter Rohstoffversorger sowie als Raketenkernwaffenmacht erster Kategorie. Das schließt Vorbereitungen und langfristiges Durchhaltevermögen in politisch-wirtschaftlichen Handels-/Sanktions-Regimen sowie Regional-Kriegen ein.

Schlussfolgerungen

* Die globale Wirtschaft befindet sich in einer prekären Situation. Die reaktionäre »Zeitenwende« hat die Welt ökonomisch gespalten, führt zum Kampf der Systeme, verstärkt die Krisenprozesse und blockiert die Lösung globaler Probleme mit dramatischen Folgen.

* Der hochentwickelte »Westen« unter Führung der USA ist in einer multiplen Krise, geprägt durch politische und ökonomische Instabilitäten im inneren und nach außen. Er verliert drastisch an globalem Einfluss und gerät zunehmend in eine Isolation gegenüber der wachsenden Mehrheit der Weltbevölkerung und der Staaten.

* Das völ­kerrechtliche Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegen­heiten anderer Staaten (UN-Charta 1945, Bandung-Konferenz 1955, KSZE 1975, Charta von Paris 1990) ist konsequent umzusetzen sowie die gravierenden kulturell-zivilisatorischen Andersartigkeiten zu akzeptieren. Das west­liche Demokratiemodell ist dabei nur eine Variante in der Vielfalt von Gesellschaftssystemen.

* Die Regierung Deutschlands wären gut beraten, die faktische US-Unterwerfung zu beenden und ihre Souveränität und Handlungsfähigkeit zu stärken. Der für die Bevölkerung und die Wirtschaft schädliche Sanktionskrieg muss im Prozess eines Waffenstillstands und von Friedensverhandlungen in der Ukraine beendet werden. Die Beziehungen zu Russland sind partiell zu revitalisieren und die mit den BRICS-Staaten, insbesondere zu China, auszubauen.

* Angesichts der Beschränktheit westlicher Führungseliten muss der Weltwirtschaftskrieg des 21. Jahrhunderts aber wahrscheinlich erst tragisch verloren werden, um entsprechend zwingende Bewusstseins- und vor allem Handlungsmaxi­me durchzusetzen. Es bedarf einer neuartigen kooperativen Qualität der Weltzivilisation.

Dieser Text ist zuerst erschienen in „Hintergrund. Das Nachrichtenmagazin“, Ausgabe 3/4 2024, Krieg: Und Frieden?

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