Abhängigkeit und Armut
Nach einem Jahr Krieg existiert keine substanzielle Binnenwirtschaft ohne Hilfe von außen mehr. Soziales Niveau eines Dritte-Welt-Staates. Endet der Krieg nicht bald, werden die Folgen verheerend sein.
Unabhängig vom Ausgang des Krieges sieht sich die ukrainische Bevölkerung umfassenden sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbrüchen ausgesetzt. Der folgende Artikel versucht, diese Folgen zu umreißen. Aber wie auch im Afghanistan-Krieg (2001-2021) liegen überprüfbare Fakten fast nur für die Statistikbereiche unter Kontrolle der westlichen Verbündeten vor – entsprechend wird sich auf diese konzentriert. Die Lebensqualität in den Volksrepubliken und in den Gebieten unter russischer Besastzung muss an anderer Stelle behandelt werden. Am Ende des vorliegenden Textes steht ein thesenartiger Ausblick auf die Zukunft.
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Der oft kolportierte Rückgang der inneren Wirtschaftsleistung von „nur“ 35 Prozent ist mehr Fake News als Realität. Diese Zahl wurde erstmals im April 2022 vom Internationalen Währungsfonds (IMF 2022) genannt und seitdem nicht verändert. Damals gingen Ökonomen von einem kurzen, auf die östliche Ukraine begrenzten Krieg aus. Die seit Oktober 2022 von Russland durchgeführt systematische Zerstörung der Energie-, Wärme- und Transportsysteme war nicht Teil der Projektion.
Werden der Exportrückgang, die Einbrüche bei den privatwirtschaftlichen Löhnen und die massiv steigende Arbeitslosigkeit als Grundlage genommen, liegt der Rückgang der Wirtschaftskraft wohl eher irgendwo zwischen 50 und 70 Prozent.
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Die Ukraine ist wirtschaftlich am Ende. Eine substanzielle Binnenwirtschaft ohne Stützungen durch das Ausland existiert nicht mehr. Entsprechend kann die Ukraine aus eigener Kraft weder Wirtschaft oder Staatsapparat finanzieren, noch die (ausländischen) Schulden zurückzahlen. Es ist dabei egal, wie der Krieg endet. Die Ukraine wird auf Jahrzehnte zu einer eigenständigen Wirtschaftspolitik nicht mehr in der Lage sein. Sie sinkt auf den Status einer abhängigen Kolonie herab – entweder des Westens oder von Russland.
Dabei wird sie strukturell vom Wohlstand der hoch entwickelten Staaten ausgeschlossen. Selbst bei einem ununterbrochenen Wirtschaftswachstum von fünf Prozent pro Jahr bräuchte die Ukraine etwa zehn Jahre, um auf das Produktionsniveau von vor dem Krieg zu gelangen. Um auf das jetzige Wirtschaftsniveau Deutschlands zu kommen, dauert es wohl bis in die 2080er-Jahre.
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Ergänzungen
Die Lohnstatistiken der Ukraine werden zunehmend durch den Krieg verzerrt. Hintergrund sind u.a. die sehr hohen Soldzahlungen an die Soldaten und Söldner. So berichtet der Spiegel, das Frontkämpfer bis zu 100.000 Hrywnja (ca. 2.500 €) erhalten. Der Grundwehrsold liegt bei ca. 490 €. Neben der großen Differenz innerhalb der Streitkräfte fällt auch die Höhe im Verhältnis zu den landesweiten Durchschnittslöhnen auf. Diese betrugen 2019 ca. 360 € – inkl. der Gehälter der Streitkräfte.
14.06.2023 – Bruch Kachowka-Staudamm
Am 06. Juni 2023 brach der Kachowka-Staudamm in der südlichen Ukraine. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, diesen aktiv zerstört zu haben. Wobei auch Materialermüdung nicht ausgeschlossen werden kann. Die Folgen werden langfristig katastrophal sein. Es fand eine umfassende Zerstörung der flussabwärts gelegenen Gebiete statt. Auf dem russisch kontrollierten Ufer sind direkt 40.000 Menschen betroffen. (Aischmann 2023) Im ukrainischen Gebiete leidet eine vergleichbare Größenordnung. Teile der bereits vorher geräumten Stadt Cherson wurden endgültig zerstört. Zusätzlich besteht die Gefahr der Ausbreitung von Seuchen als auch die „Verminung“ weiter Gebiete durch weggeschwemmte Mienen und Munition.
Die langfristigen Folgen sind noch dramatischer. Der Staudamm regulierte die Bewässerung und Trinkwasserversorgung der sonst eher trockenen Region. Solange der Staudamm nicht wieder aufgebaut wird, droht der wirtschaftliche Zusammenbruch von Landwirtschaft sowie Trink- bzw. Brauchwasserversorgung der südlichen Ukraine einschließlich der Krim. Es steht die Umwandlung in eine Steppen – bzw. Wüstenlandschaft. (Clasen 2023) Laut UN sind aktuell mindestens 700.000 Menschen betroffen. Egal wie der Krieg endet – eine wirtschaftliche Erholung rückt in unerreichbare Ferne.
Zumal hier immer noch eine nukleare Katastrophe droht. Der Stausee stellte auch das Kühlwasser für das Atomkraftwerk Saporischschja sicher. Ob ohne das Stauwasser eine sichere Versorgung funktioniert, ist fraglich.
Appelle der Zivilgesellschaft, humanitärer Korridore zu Evakuierung der Betroffenen (ippnw 2023) zu vereinbaren, verhallen ungehört. Die meisten Politiker sind derzeit zu beschäftigt, Schuldige zu finden.
Ergänzung 13.08.2023
Wie stark die Ukraine, im Vergleich zu früher, zurückgeblieben ist, unterstreicht Denis Renft in seinem Kommentar auf Telepolis: „Das ist die wahre Glanzleistung. Ein Blick zurück. Die Ukrainische SSR war in 1990 neben Weißrussland die mit Abstand am weitest entwickelte Sowjetrepublik. Sie hatte eine gebildete demographisch gesunde Bevölkerung, einen Industriaisiesrungsgrad uva. was in der SU keinesfalls selbstverständlich war, eine Logistik von der die meisten anderen ehemaligen Sowjetrepubliken nur träumen konnten. In 30 Jahren wurde, ohne einen Krieg allein durch Korruption und Oligarchentum das größte Armenhaus Europas geschaffen.“
Literaturverzeichnis
Aischmann, Frank (2023): Nach Dammbruch in der Südukraine „Die Situation ändert sich jede halbe Stunde“. In: tagesschau, 07.06.2023.
Clasen, Bernhard (2023): Kachowka-Staudamm. Erst das Wasser, dann die Bakterien. Bernhard Clasen warnt vor dem Ausmaß des Kachowka-Dammbruchs in der Ukraine. In: neues deutschland, 12.06.2023.
ippnw (Hg.) (2023): Ärzt*innenorganisation fordert humanitären Korridor. Humanitäre Katastrophe nach Dammbruch in der Ukraine.
Spiegel (Hg.) (2023): Ukrainische Frontkämpfer erhalten rund 2500 Euro pro Monat. Hamburg.
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Bei Interesse können die statistischen Daten für die Grafiken per Mail zugesandt werden.
https://orcid.org/0000-0002-3927-6245
Ein Gedanke zu “Düstere Zukunft der Ukraine”