Seit den 1950er Jahren durchläuft die demographische Entwicklung der Ukraine drei Phasen. Eine genauere Aufschlüsselung der demographischen Entwicklung findet sich auf den Seiten der UN-Population Division.
1. Phase: 1950er bis1990er Jahre
Wie in der übrigen Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten Osteuropas wuchs die Bevölkerung kontinuierlich. Diese Entwicklung wurde getragen durch höhere Geburtenraten als in Westeuropa, einer stark sinkenden Kindersterblichkeit und einen Anstieg der Lebenserwartung. Hintergrund waren vor allem die umfassende Sozial- und Gesundheitspolitik und die gezielte Förderung von Familien. Eine (begrenzte) Einwanderung erfolgt aus dem asiatischen und kaukasischen Gebieten des sowjetischen Raums. Die Ukraine erreichte ihren Höchststand der Bevölkerungsentwicklung im Jahr 1993 – 51,8 Mio. Einwohner.
2. Phase: 1990er Jahre bis 2020
Die zweite Phase begann mit der Auflösung der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre. In dieser ging die demographische Entwicklung in Osteuropa völlig auseinander. Staaten in denen das Wirtschaftsmodell eine gewisse Prosperität erreichte, blieben demographisch weitgehend stabil. Beispiele sind Volkswirtschaften mit völlig unterschiedlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik wie Polen oder Russland. In letzteren stabilisierte die hohe Einwanderungen ethnischer Russen aus den neuen Staaten Osteuropa und Zentralasien die demographische Entwicklung zusätzlich.
Der Ukraine gelang es nicht ein stabiles Wirtschaftsmodell zu errichten. (Kleinwächter 2022) In Folge ging die Bevölkerung in 30 Jahren um mehr als 15 Prozent zurück. Ursächlich war eine Kombination aus dramatischen Einbruch der Geburtenraten, erst Rückgang und später begrenzter Anstieg der Lebenserwartung sowie umfassende Auswanderungen. Für 2020 schätzte die UN eine ukrainische Bevölkerung (inkl. der Volksrepubliken und der Krim) von 44 Millionen – Tendenz stark fallend.

Die UN-Daten unterzeichnen die Bevölkerungsverluste, da die Emigration nur unterproportional erfasst wird. Bei der Volkszählung von 2019 registrierten die Behörden 37,3 Millionen Menschen in der Ukraine – ohne die Bevölkerung der Volksrepubliken und der Krim. Wenn die UN-Prämisse gilt, dass diese Gebiete weiterhin vier Millionen Einwohner wie vor dem Krieg 2014 haben, liegt das amtliche Ergebnis um ca. drei Millionen unter den UN-Daten. (Gobert 2020)
Die Volkszählung lag vor den Jahren 2020/21 mit negativen Wanderungssaldo und einer massiven (aber offiziell nicht aufgewiesenen) Übersterblichkeit in Folge der Corona-Epidemie. Die Ukraine zählte ihre Toten mangels Testung, maroden Gesundheitssystem sowie breiter Impfskepsis der Bevölkerung kaum. Die Volksrepubliken und die Krim tauchen in den Covid-Statistiken zur Ukraine erst gar nicht auf. Mit Beginn des russisch-ukrainischen Krieges wurden die mangelhaften Impfprogramme inklusive ihrer Statistiken eingestellt.

Die reale Anzahl der Bevölkerung in der (West-)Ukraine dürfte bereits vor 2022 unter 37 Millionen gelegen haben. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Volksrepubliken und die Krim einen ähnlichen demographischen Niedergang durchmachten. Es ist realitätsnah anzunehmen, dass bereits vor den Krieg weniger als 40 Millionen Menschen im Gesamtgebiet der Ukraine lebten. Im Vergleich zum demographischen Höhepunkt 1993 sank die Bevölkerungszahl um 20 bis 25 Prozent.
3. Phase: Gegenwart und Zukunft
Nach Schätzungen vom Januar 2023 trieb der Ukraine-Krieg bisher mindestens acht Millionen Menschen ins Ausland. Davon gingen wahrscheinlich knapp unter drei Mio. nach Russland. Die anderen flohen fast alle in die EU. Hauptzielländer waren Polen (1,5 Mio.) und Deutschland (mind. 0,8 Mio.).
Die Migrationsbewegung führt in den Nachbarländern der Ukraine zu einem deutlichen Anstieg der Bevölkerung – sichtbar anhand der Ausschlägen bei Polen und Rumänien. (vgl. Grafik 1) Ähnliche Entwicklungen setzen auch in Deutschland ein. Aber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Juli 2022 war eine Erfassung der endgültigen Zielländer nicht möglich. Entsprechend beziffert die UN im World Population Prospect ukrainischen Flüchtlinge nur in den Nachbarländern.
Die genaue Anzahl der Flüchtlinge ist unbekannt. Die UN schätzt wahrscheinlich zu konservativ. Flüchtlinge, die sich nicht bei den einschlägigen Organisationen oder staatlichen Institutionen im Grenzgebiet melden, werden erst Monate später in den Zielländern registriert.
Beispielsweise befinden sich nach Angaben der deutschen Regierung knapp über eine Million geflüchtete Ukrainer*innen in Deutschland. Die Abweichung zwischen den UN-Zahlen und der deutschen Statistik beträgt ca. 200.000 Personen oder 20 Prozent.
Auswirkungen
Die zukünftige demographische Entwicklung ist nach diesen UN-Schätzungen äußerst negativ. Anhand der damaligen Modelle können vier Schlussfolgerungen gezogen werden.
1. UN Modelle sind das optimistische Szenario
Die derzeitigen Flüchtlingszahlen übertreffen die Schätzungen vom Sommer 2022 um mindestens eine Millionen Menschen. Die UN-Modelle sollten aus heutiger Sicht als optimistische Prognosen für die demographische Entwicklung der Ukraine gesehen werden. Die Realität wird wohl deutlich düsterer.

Zumal die Projektierungen des International Center for Migration Policy Development (ICMPD 2023) für 2023 eine weitere Auswanderung von bis zu vier Millionen Menschen für realistisch hält. (S. 2)
Eine Vorstellung verschiedener Variablen für demographische Veränderungen im aktuellen Konflikt findet sich auf den Seiten des Forschungsnetzwerkes Population Europe. (Kulu et al. 2022)
2. Kaum Rückkehrer
Die Abwanderung aus der Ukraine ist dauerhaft. (intellinews 2022) Die UN geht in allen Szenarien davon aus, dass weniger als ein Drittel der Geflüchteten in absehbarer Zeit zurückkehrt.
Diese Annahme wird auch durch Befragungen ukrainischer Geflüchteter gestützt. Der IAB Forschungsbericht „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland: Flucht, Ankunft, Leben“ (Brücker et al. 2022) vom Dezember 2022 ermittelte, dass
… 26 Prozent bereits jetzt für immer und 11 Prozent zumindest für mehrere Jahre (über den Krieg hinaus) bleiben möchten (S. 14)
… nur zwei Prozent planen für höchstens ein Jahr zu bleiben (S. 14)
Insbesondere bei den 207.000 schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen (Kultusministerkonferenz 2003) zeigt sich das begrenzte Potential einer Rückkehr (Brücker et al. 2022, S. 17f):
… nur 23 Prozent nutzen den Online-Unterricht einer ukrainischen Schule
… nur bei drei Prozent ist es das alleinige Bildungsangebot
Die obigen Zahlen sind auch Ausdruck der Wünsche vieler Eltern nach einer besseren Zukunft für ihre Kinder – im Ausland! (Mirovalev 2022) Schon in den 1990er Jahren war die Opferbereitschaft (deutsch-)osteuropäischer Zuwanderer enorm. Viele gutqualifizierte Eltern opferten ihren eigenen Status, akzeptierten dauerhafte Niedriglöhne und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, nur um ihren Kindern eine Zukunft in der neuen Heimat zu sichern. Viele Ukrainer*innen werden ähnliche Wege gehen.
Ein ähnliches Bild wie die deutsche Befragung zeigt der Ukraine Survey der EU (FRA 2023). Nur 35 Prozent der Befragten ukrainischen Geflüchteten gaben an, sie planen (baldmöglichst) in die Ukraine zurückzugehen. (S. 25)
Bei Prognosen zur (Netto-)Rückwanderung muss auch immer in Betracht gezogen werden, das 77 Prozent der nach Deutschland geflüchteten Frauen Partner und/oder Familie in der Ukraine haben. (Brücker et al. 2022, S. 9) Die Frauen, die sich zum Bleiben entscheiden, werden ihre Familien nach Deutschland holen – Stichwort Familienzusammenführung.
3. russischsprachige Netzwerke in Deutschland
In Deutschland (sowie anderen EU-Staaten) treten zwei weitere Faktoren hervor, die eine umfassende Rückwanderung unwahrscheinlicher werden lassen.
Einerseits existiert hierzulande eine große russischsprachige Community. Nach Schätzungen beherrschen mindestens 3,5 Mio. Spätaussiedler und ihre Kinder in Deutschland die russische Sprache.
Hier zeigen sich die Folgen der massiven Auswanderung der letzten Jahrzehnte. Millionen Osteuropäer darunter viele Russen- und Ukrainer*innen befinden sich bereits in Westeuropa – oft für Deutsche unsichtbar im Niedriglohnsektor. Jetzt werden sie zum Anlaufpunkt für die neuen Migranten.
Die Ukrainer*innen können auf ein breites Spektrum an etablierten (Ethno-)Strukturen zurückgreifen – inkl. Supermärkte, Kulturverbände, osteuropäische Unternehmen, politische Organisationen und ihnen kulturell / sprachlich nahestehende Mitarbeiter*innen in Behörden, Schulen etc. Entsprechend geringer fällt der Druck aus zurückzugehen.
„Die deutliche Mehrheit der ukrainischen Geflüchteten fühlt sich bei ihrer Ankunft in Deutschland willkommen (voll und ganz: 33 Prozent, überwiegend: 43 Prozent).“
IAB-Forschungsbericht (Brücker et al. 2022, S. 14)
4. Deutsche Peuplierungspolitik
Andererseits wandelt sich die Politik Deutschlands fundamental. Olaf Scholz unterstützte im Dezember 2022 offen die demographische Prognose des Statistischen Bundesamtes. (Handelsblatt 2022)
In der von ihm zitierten 15. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (Statistisches Bundesamt 2022) halten die Wissenschaftler ein Wachstum auf 90 bis 94 Mio. bis 2070 für realistisch. Eine Entwicklung die immer noch langsamer wäre als in den letzten 30 Jahren.

In einen lesenswerten Artikel auf RiffReporter (Rinke und Schwägerl 2022) stellen die Autoren fest:
„Die große Schrumpfung ist abgesagt. Deutschlands Bevölkerung wird neuen Szenarien zufolge sogar deutlich wachsen. […] Damit hat auch die deutsche Demografie-Entwicklung ihre „Zeitenwende“ – und ein radikales Umdenken beginnt, das alle Bereiche des Lebens betrifft. […] Aber an den neuen Prognosen des Statistischen Bundesamtes fällt auf, dass selbst die höchsten Annahmen bei Zuwanderung, Lebenserwartung und Geburtenrate eher konservativ gewählt wurden. Das lässt es möglich erscheinen, dass die nächste Berechnung in vier Jahren eine erneute deutliche Korrektur nach oben bringen könnte“
Rinke und Schwägerl (2022)
Derzeit strebt keine der Regierungs-Parteien (und auch kaum eine Oppositionspartei) Massenrückführungen von Ukrainer*innen an. Im Gegenteil – mit dem aktiven Einsatz für pauschale EU-Visa, im Verhältnis zu anderen Flüchtlingsgruppen großzügigen Sozialregelungen sowie den offensiv vorgetragenen Willen, die Ukrainer*innen in den Arbeitsmarkt bzw. die Bildungssysteme zu integrieren, stimuliert die Regierung deren Einwanderung.
Natürlich ist ein zukünftiger Umbruch nicht ausgeschlossen. Erinnert sei hier an die Zwangsrückkehr von über 300.000 Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina ab Mitte der 1990er Jahre. (Haye 2022) Aber die Gesellschaft hat sich verändert.
Außerdem fördern auch anderen EU-Staaten die Einreise ukrainischer Flüchtlinge. Diese werden ausdrücklich als zukünftige Arbeitskräfte und Staatsbürger begrüßt. (OECD 2022) Entsprechend sind deutsche Alleingänge weniger ausschlaggebend als auch umfassende Rückwanderungen i die Ukraine unwahrscheinlich.
Schlussfolgerung: Demographischer Niedergang
Der Rückgang der Einwohnerzahl in der Ukraine ist wohl dauerhaft. Keines der UN-Modelle sieht eine Stabilisierung der Bevölkerung vor dem Ende des 21. Jahrhundert. Die mittlere Prognose nimmt eine Schrumpfung auf 33 Mio. bis 2050 an. Das ist eine verhalten optimistische Modellvariante, die eine gewisse (Selbst-)Stabilisierung der demographischen Entwicklung annimmt. Aber selbst in diesem Szenario sinkt die Anzahl der Einwohner auf ein Niveau der 1930er Jahre.
Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, dass die UN die Ukraine ausschließlich in den Grenzen von vor 2014 betrachtet. Von den oben genannten 33 Millionen Einwohnern würden, je nach Kriegsausgang, wahrscheinlich erhebliche Anteile dauerhaft in von Russland kontrollierten Gebieten leben. Die verbliebene (West-)Ukraine hätte deutlich weniger als 30 Millionen Einwohner.
Die Massenauswanderung von 2022 verstärkt den demographischen Niedergang. Die Ukraine ist schon jetzt ein relativ dünn besiedeltes Land. Sie umfasst nur die Hälfte der Bevölkerung, aber das 1,9fache der territorialen Ausdehnung von Deutschland. Nach dem Krieg dürfte die Siedlungsdichte in vielen Gebieten für eine wirtschaftliche Prosperität zu gering sein. Die Spielräume sich zu entwickeln, gehen entsprechend zurück.
Hinzu kommt ein oft wenig diskutierter Faktor: Die Mehrheit der Bevölkerung in den jetzt von Russland besetzten Gebieten hat sich wohl entschieden. Sie sieht wahrscheinlich für sich selbst in einer nationalisierten Ukraine keine Zukunft. Beispielhaft steht die Stadt Cherson. Von den ursprünglich 280.000 Einwohnern, blieben geschätzt 40.000. Die Mehrheit ging mit der russischen Armee, als diese die Stadt räumte. Ein Grund sicher auch für viele – Furcht vor der Rache ihrer Landsleute.
Sollte es zu Rückeroberungen kommen, wird die ukrainische Armee weitgehend menschenleere Gebiete einnehmen. Für eine Wiederbesiedelung fehlt der Ukraine aber die demographische Dynamik.
Damit stellen sich für die Ukraine-Unterstützer Fragen, die öffentlich ganz bewusst verdrängt werden. Jürgen Habermas (Habermas 2023) schrieb in seinem letzten Essay:
„Auch der Westen [… darf] weder die Zahl der Opfer noch das Risiko, dem die möglichen Opfer ausgesetzt sind, noch das Ausmaß der tatsächlichen und potenziellen Zerstörungen vergessen. […] Von dieser Abwägung der Verhältnismäßigkeit ist auch der selbstloseste Unterstützer nicht entlastet.“
Prof. Jürgen Habermas (2023)
Deutschland muss eine realistische Idee von der Zukunft der Ukraine finden. Kampf bis zum letzten Bewohner wird der Ukraine weder Freiheit noch Wohlstand bringen.
Literaturverzeichnis
Brücker, Herbert; Ette, Andreas; Grabka, Markus M.; Kosyakova, Yuliya; Niehues, Wenke; Rother, Nina et al. (2022): Gefüchtete aus der Ukraine in Deutschland: Flucht, Ankunft, Leben. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB-Forschungsbericht, 24/2022).
FRA (Hg.) (2023): Fleeing Ukraine. Displaced People´s Experiences in the EU. Wien. Online verfügbar unter .
Gobert, Sebastian (2020): Volkszählung in der Ukraine. Demografischer Niedergang unvermeidlich? Hg. v. Zentrum für die liberale Moderne. Berlin.
Habermas, Jürgen (2023): Ein Plädoyer für Verhandlungen. In: Süddeutsche Zeitung, 14.02.2023.
Handelsblatt (Hg.) (2022): Scholz: Mehr ältere Arbeitnehmer sollten bis zum offiziellen Renteneintrittsalter arbeiten. Düsseldorf.
Haye, Emina (2022): Willkommenskultur damals und heute. Dreißig Jahre nach dem Ausbruch des Krieges in Bosnien-Herzegowina. Hg. v. bosnieninberlin.de. Berlin.
ICMPD (Hg.) (2023): Miration Outlook 2023. Wien.
intellinews (Hg.) (2022): UN projects Ukraine’s population will never recover from war. Berlin.
Kleinwächter, Kai (2022): Die Ukraine. Das hochgerüstete Armenhaus Europas. In: telepolis, 22.06.2022.
Kultusministerkonferenz (Hg.) (2023): Abfrage der geflüchteten Kinder/Jugendlichenaus der Ukraine. 10. Kalenderwoche 2023. Berlin.
Kulu, Hill; Christison, Sarah; Liu, Chia; Mikolai, Júlia (2022): The War and the Future of Ukraine’s Population. University of St Andrews; MigrantLife; Max-Planck-Gesellschaft. München (MigrantLife Working Paper, 9 (2022)).
Mirovalev, Mansur (2022): Ukraine faces bleak demographic future. Hg. v. aljazeera.
OECD (Hg.) (2022): The potential contribution of Ukrainian refugees to the labour force in European host countries. Paris.
Rinke, Andres; Schwägerl, Christian (2022): Demografische Zeitenwende. Deutschland wächst Richtung 100 Millionen Einwohner. Hg. v. Riffreporter. Bremen.
Statistisches Bundesamt (Hg.) (2022): 15. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Annahmen und Ergebnisse. Berlin.
Ein Gedanke zu “Ukraine – Implosion der Bevölkerung”