Disruptive Marktumbrüche

Aktualisierung: Januar 2023
Erste Fassung: Juli 2022

Strategische Neuausrichtungen von Märkten verlaufen sehr unterschiedlich. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen vor allem schnelle Umbrüche – modisch als „disruptiv“ bezeichnet. Schöpfer des Begriffs ist u.a. der inzwischen verstorbene Clayton Christensen – Prof. an der Harvard Business School. Aber selbst die „Erfinder“ räumen ein, dass dieser inflationär genutzt wird.

„In our experience, too many people who speak of “disruption” have not read a serious book or article on the subject. Too frequently, they use the term loosely to invoke the concept of innovation in support of whatever it is they wish to do.“
Christensen et al. 2015

Disruptive Innovationen sind keine Weiterentwicklungen wie mehr Farben im Fernseher, eine fünfte Klinge am Rasierer oder besseren Handyempfang. Nach Clayton Christensen bedeutet Disruption, das Offerieren von Produkte mit simpleren Aufbau an vorhandene Kundengruppen. Obwohl die Produkte in vielen Bereichen den Etablierten unterlegen sind, setzen sie sich durch. Die neuen Produkte verfügen aber über andere, aus Sicht der Kunden attraktivere Schwerpunkte.

WII vs. X-Box und Playstation

Ein prägnantes Beispiel wäre die Durchsetzung der WII-Spielkonsole Ende der 2000er Jahre. Microsoft (X-Box) und Sony (Playstation) dominierten mit Konsolen, die vom Anspruch der Spiele, der technischen Leistung und vor allem preislich primär für Hardcore-Gamer interessant waren. Nicht umsonst ist seit Jahren der Slogan von Sony: For the Player. Nintendo verlor den Wettbewerb mit seiner Konsole.

Aber die technisch und grafisch deutlich einfachere WII schaffte den Durchbruch. Der Fokus lag nicht auf technischer Performance, sondern auf intuitiver Bedienung, Spaß am Spielen und gemeinsamer Aktivität mit einfachsten Gruppenspielen. Neue Kundengruppe waren u.a. Frauen, Kinder und Familien sowie Senioren. Segmente die Microsoft und Sony vernachlässigt hatten.

Muster der Veränderung

Etablierte Marktführer beschleunigen mit ihren Verhalten die Umbrüche. Um ihre Gewinne (überproportional) steigern zu können, konzentrieren sie sich auf den Ausbau ihres existierenden Kerngeschäftes mit besonders rentablen Kernzielgruppen. Diese versorgen sie mit qualitativ und technologisch hochwertigen Gütern des oberen Preissegmentes. Diese Produkte sind aus Sicht der Konzerne äußerst profitabel.

„But a more fundamentel reason lies at the heart oft he paradox:
Leading companies succumb to one of the most popular and valuable, management dogmas
They stay close to their [core]customers.“
Bower und Christensen 1995, S. 4

In Folge fühlen sich Segmente mit weniger anspruchsvollen Kunden vernachlässigt. Auch neue Märkte, die als nicht attraktiv genug gelten, werden nicht strategisch entwickelt. In die entstehenden Marktlücken stößt das innovative Unternehmen.

Die hohen Preise der Etablierten ermöglichen den Neuen anfangs auskömmliche Gewinne. So kostete die Entwicklung der WII-Titel bei ähnlichen Verkaufspreisen wie bei der Konkurrenz weniger als ein Viertel.

Mit dem Wachstum dringen sie in (höherwertige) Marktsegmente vor und greifen damit die Marktführer an. Diese schlagen teilweise erfolgreich zurück und passen ihre Strategien an. Eine Ursache, warum nur wenige Innovatoren überleben und zu dominanten Playern aufsteigen. Das kann sogar zu innovativen Märkten führen, auf denen trotz kontinuierlichen Umwälzungen keine signifikante Veränderung der Akteure stattfindet. Christensen et al. (2015) führen dafür den US-Bildungsmarkt mit seiner seit Jahrzehnten bestehenden Reihenfolge der großen Universitäten auf.

Disruption als langer Prozess

Solche strategischen Marktumbrüche vollziehen sich oft über Jahrzehnte. Die neuen Anbieter beginnen in Marktnischen und dringen von da aus in (dominante) Massenmärkte vor. In Folge werden die revolutionären Ansätze erst spät erkannt. Die etablierten Akteure halten sie, gemessen an Umsatz und Kundenanzahl, zu lange für unwichtig.

Bower und Christensen geben hier als Beispiel den Aufstieg der Personal Computers gegen die „Minicomputer“ in den 1970/80er Jahren an. Die „Minicomputer“ waren heute verschwundene Mini-Großrechner von der Größe von ein bis zwei „Schränken“. Kaum eine der Firmen, die solche Rechner produzierten überlebte den Wandel. Sie hielten es für utopisch, das kleine Büros und private Haushalte Computer nutzen würden.

Ähnliche Fehleinschätzungen gab bei den Festplatten. Die etablierten Konzerne unterschätzten den Aufstieg der Laptops. Diese nutzten kleinere, verhältnismäßig teure und technisch schlechtere Festplatten. Aber dafür verbrauchten sie weniger Strom und waren leichter – und damit mobil. (Bower und Christensen 1995)

In beiden Fällen erhöhten die neuen Anbieter die Leistung ihrer Produkte im Zuge der Massenproduktion sehr schnell. Bald kamen sie an das Niveau im Kerngeschäft der Etablierten. Als dann deren Kernkunden wechselten, zerbrach das alte Geschäftsmodell.

Die anfänglich langsame Entwicklung resultiert aus der Persistenz des Konsumverhaltens. Viele Kunden verändern sich nur allmählich. Erst bei qualitativ hochwertigen Angeboten und ausgereiften Geschäftsmodellen erfolgen Durchbrüche in den Massenmarkt. Niedrigere Preise alleine sind (meist) kein entscheidendes Argument zum Wechsel.

Entsprechend wachsen Umsatz bzw. Gewinne anfangs eher langsam. Die Disruptoren können nur peu á peu Produktions- und Vertriebsstrukturen ausbauen. Zumal die neuen Geschäftsmodelle erst ausreifen müssen bis sie sowohl eine ansprechende Qualität und Belastbarkeit aufweisen, als auch skalierbar sind. Gleichzeitig wandeln sich die etablierten Unternehmen nur langsam, da …

„the incremental profit from staying with the old model for one more year
trumps proposals to write off the assets in one stroke.“
Christensen et al. 2015

Beispiel Netflix als Disruptor

Christensen et al. (2015) führen als Disruptor das 1997 gegründete Unternehmen Netflix an. Dieses verschickte ursprünglich DVD´s über den Postversand. Die Innovationen von Netflix waren u.a. eine rein digitale Verkaufsoberfläche (ohne stationären Vertrieb), einfach gestaltete Gebühren- und Abosysteme sowie ein eigenes Empfehlungssystem auf Basis individueller Kundendaten.

Die Kombination führte zum Aufbau eines größeren Kundenstammes, dem Netflix erst ab 2007 Streaming-Filme über seine Plattform anbot. Dafür sicherte es sich für rund „eine Mrd. US-$ die Rechte am Onlinevertrieb von Filmen der Paramount, Lions Gate und Metro-Goldwyn-Mayer.“ (Dyer und Stenger 2019)

Bekanntheit der Marke und etablierte Strukturen ermöglichten in den folgenden Jahren ein schnelle Expansion. Erst ab 2010 ging das Unternehmen ins Ausland und ab 2013 auf eigene Produktionen. Für den Durchbruch sorgten eher die innovativen Geschäftsprozesse als eine Technologie. (Christensen et al. 2015)

Ein wichtiger Faktor des Aufstiegs des Streaming-Dienstes waren die Preissteigerungen und Konzentrationsprozesse der Kinobranche.

In den 1990er Jahren waren Karten für unter drei DM keine Seltenheit. Heutzutage addieren sich die Eintrittspreise für einen Blockbuster inklusive Zuschläge schnell auf 15 € und mehr pro Person. (Essen und Getränke nicht mitgerechnet.) Um die Profite zu steigern, wurden für die attraktive Zielgruppe der jungen Männer und ihrer Vorliebe für Action-Blockbuster-Filme umfassende Extras wie Dolby-Surround, 3-D-Effekte, besondere Farbbrillanz etc. entwickelt. Viele Konsumentengruppen finden diese aber nicht wichtig oder lehnen sie sogar ab – zu laut, zu grell, zu groß etc… Warum sollen sie dafür Geld ausgeben? Zumal wenn ein Abo bei Netflix 10€ im Monat kostet.

Gleichzeitig zeigen Cinestar und Co. primär Standard-Hollywood Ware. Wer Klassiker oder Unkonventionelles sucht wird kaum fündig.

Aber die großen Ketten bzw. Studios reagierten inzwischen. Ihre Medien sind diverser, sie produzieren inzwischen eigene Serien und eröffneten wie Disney eigene Plattformen. Gleichzeitig kommen neue Konkurrenten auf den Markt. (Dyer und Stenger 2019) Der Wettbewerb wird rauer. Zumal sich inzwischen auch betriebswirtschaftliche Grenzen bzw. Nachteile des Vertriebskonzeptes von Netflix zeigen. (Osteried 2021) So bricht Netflix inzwischen offen sein Versprechen keine Serien oder Filme auszulisten. Allein die Ende 2022 entfernten Inhalte füllen kleine Bibliotheken. (Bild.de 2022) Hintergrund sind offiziell zu hohe Lizensgebühren.

Uber kein Disruptor?

In ihren Artikel argumentieren Christensen et al. (2015) das Uber kein Disruptor ist. (Außer im Bereich der Luxuslimousinen.) Aus ihrer Sicht hat dieses Unternehmen mit dem Standard-Angebot keine neuen Kunden bzw. Märkte erschlossen und auch keine Produkte niedrigerer Qualität an vernachlässigte Kunden angeboten.

Eine Sicht die ich nicht teile. Uber hat anfangs die Preise der Taxis deutlich unterboten. Gleichzeitig hatten die privaten Fahrer*innen keine hochwertigen Automarken, besonderen Service, Pünktlichkeit oder ähnliches. Auch die Art der Erreichbarkeit – nur per App – ist nicht gerade Kundenfreundlich. Die Klagen in den USA gegen Uber auf Grund sexueller Belästigung durch die Fahrer sind deutlich. Ein solches Unternehmen, dessen interne Statistik allein 2019 bis 2020 mehr als 3.800 solche Fälle verzeichnet, ist wohl kein hochwertiges Angebot. (Reuters 2022)

Aber die Uber-Fahrer waren um Mitternacht im verlassenen Wohngebiet oder dem Uni-Campus, die von Taxis schon lange nicht mehr bedient wurden. Diese konzentrierten sich auf attraktivere Kunden-Segmente mit Kurzfahrten in den Innenstädten. Gleichzeit etablierte Uber neue digitale Vertriebswege und Abrechnungssysteme, die als revolutionär bezeichnet werden können. Vor allem die sozial fragwürdige Abwälzung der Kosten für Unterhalt und Betrieb der Autos auf die Selbstständigen waren vorher nicht in der Branche etabliert. (Leisegang 2015)

Ähnliche Argumente führen Christensen et al. (2015) für das I-Phone von Apple an. Es stellte eine radikale Verbesserung vorhandener Technologien dar – als High-End-Produkt im Luxussegment und nicht im Markt für einfache Geräte.

Die meisten „Laien“ würden für beide Firmen den Begriff „disruptiv“ setzen. Und was das Ergebnis betrifft hätten sie Recht. Am Ende entstanden durch beide Firmen stark veränderten Branchenstrukturen. Die alten Märkte und mit ihnen die Gewohnheiten der Konsumenten, die Preisstrukturen als auch die Regulierungen brachen um. Das ist Disruption so wie sie heute verstanden wird.

Zu enge Definition

Christensen et al. (2015) zielen in Rahmen ihrer Theorie einerseits auf einen radikalen Marktumbruch, der die alten Spieler und ihre Geschäftsmodelle (nahezu) auslöscht bzw. zumindest eine gänzlich andere Akteursaufstellung hervorbringt.

Andererseits soll dieser Umbruch von Produkten mit geringerer Qualität und Preisintensität kommen. Diese kämpfen sich allmählich in den Massenmarkt vor und legen dabei an Qualität (und Preis) zu.

Disruptoren die von „oben“ den Markt aufrollen wie Apple und Tesla, werden nicht berücksichtigt. Sie passen nicht zum übrigen Theoriemodell. Auch soll der Umbruch rein auf Technik und Geschäftsmodellen basieren. Veränderte Rahmenbedingungen zählen nicht als disruptiv. Insbesondere politische Umbrüche in der Regulierung – wie bei Uber und dem Taximarkt – werden bewusst ausgeklammert.

Diese Definition erkennt nur wenige Innovationen als „disruptiv“ zu. Insbesondere die Ausklammerung von politischen Umbrüchen verschließt dem Denkansatz wesentliche Erkenntnisse. Oder um beim Beispiel des Bildungsmarktes zu bleiben, dessen Entwicklung für Christiansen et al. (2015) ein Rätzel ist: Solange sich die politischen Rahmenbedingungen der staatlichen Förderungen und Bildungsgesetze nicht radikal ändern, wird die Struktur bleiben wie sie ist. Die etablierten Spieler passen sich neuen Herausforderungen wie der Online-Lehre an und behalten ihre führende Position – Geschützt durch staatliche Institutionen (insb. auch dem militärisch-industriellen Komplex).

Der Begriff „disruptive Innovation“ hat sich verselbstständigt und seine Schöpfer kommen damit nicht ganz klar. Vielleicht auch eine häufige Folge disruptiver Ideen. 😏

Literaturverzeichnis

Bild.de (Hrsg.) (2022): Netflix streicht bald diese Super-Serien. Axel Springer.

Bower, Joseph; Christensen, Clayton (1995): Disruptive Technologies. Catching the Wave. In: Harvard Business Review 73 (1), S. 43–53.

Christensen, Clayton; Raynor, Michael; McDonald, Rory (2015): What Is Disruptive Innovation? In: Harvard Business Review (December).

Dyer, John; Stenger, Kurt (2019): Hollywood gegen Silicon Valley. In: neues deutschland, 26.02.2019, S. 15.

Leisegang, Daniel (2015): Der Uber-Kapitalismus. In: neues deutschland, 09.05.2015, S. 21.

Osteried, Peter (2021): Warum so viele Serien nur zwei Staffeln lang laufen. Golem.de. Berlin.

Reuters (Hrsg.) (2022): Mehr als 500 Frauen verklagen Uber wegen sexueller Übergriffe. In: sueddeutsche, 14.07.2022.

Kunstwerk des Eintrages

Richard Wimmer (1849 – 1915) – Joseph von Fraunhofer demonstriert ein Spektrometer
Lizenz: Gemeinfrei.

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