Drei Jahrzehnte neue deutsche Außen- und Sicherheitspolitik

Einführung

Mit der Einheit von 1990 bekam Deutschland nach 1870/1871 und 1918 die dritte historische Chance auf Eigenentwicklung in voller Souveränität. Dieser Neubeginn, nach zwei selbstverschuldeten Weltkriegen, Niederlagen und vier Jahrzehnten Spaltung, leitete einen anhaltenden Positionierungsprozess Deutschlands in den internationalen Beziehungen ein. Er ist Bestandteil einer globalen Umgestaltung der Weltordnung inklusive gravierender Verschiebungen der Kräfteverhältnisse. Deutschland selbst ist dabei Teil und Akteur der Umbrüche. Im Rahmen der Neubestimmung deutscher Interessen nach 1990 galt es dabei, das gesamte internationale Umfeld zu bewerten. Völkerrechtliche Grundlagen waren dafür insbesondere der „Zwei-plus- Vier-Vertrag“ über die deutsche Einheit und die (KSZE-)Charta von Paris (1990), die Charta der Vereinten Nationen (1945) sowie das reformierte Grundgesetz Deutschlands (1949/1994).

Politische Grundorientierung

Der Übergang vom bipolaren Weltsystem des 20. in die globale Multipolarität des 21. Jahrhunderts wurde von den Führungskreisen in den Regierungskoalitionen unter Helmut Kohl (1982–1998), Gerhard Schröder (1998–2005) und Angela Merkel (2005–2021) – wenn auch differenziert, widersprüchlich und fehlerlastig – im Wesen verstanden, mitgestaltet und für Deutschlands Aufstieg genutzt. Konstanten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sind dabei, die Verrechtlichung der internationalen Politik, „eine regelbasierte Ordnung“; politische und v.a. militärische Alleingänge auszuschließen und stets in Kooperation zu handeln, sei es mit anderen Einzelstaaten und/oder bevorzugt im Rahmen internationaler Organisationen wie der EU, der OSZE, der NATO, der G20 und den Vereinten Nationen. Dabei setzt sich Deutschland nachdrücklich für eine Vertiefung und Erweiterung der Kompetenzen der internationalen Organisationen ein. Herausragende Bedeutung hinsichtlich der Interessen und Ziele hat dabei die ökonomische und soziale Sicherheit Deutschlands in Europa und global.

In den 1990er Jahren wurden zwei strategische Aufgaben realisiert:

Erstens. Der Prozess der deutschen Einheit vollzog sich friedlich – kein Bürgerkrieg, keine Generalstreiks, keine systemgefährdenden sozialen Unruhen – und schuf mit diesem demokratischen Grundverständnis in beiden deutschen Teilstaaten die Grundlagen für eine dynamische Eigenentwicklung Gesamtdeutschlands sowie die Stärkung der Europäischen Union.

Zweitens. Gelang Deutschland eine außenwirtschaftliche Expansion sowie der ökonomische und technologische Aufstieg, von einer europäischen Zentralmacht in die Gruppe weltweit agierender Staaten. Grundprinzipien deutscher Außenpolitik in diesem ersten Jahrzehnt nach der Einheit waren internationale Integration, eine West-Ost-Brückenfunktion und politische, militärische sowie ökonomische Selbstbeschränkung.

Die außenpolitische Orientierung war über den gesamten Zeitraum 1990–2020 geprägt von Auseinandersetzungen innerhalb der Führungseliten über die inhaltliche und geostrategische Schwerpunktsetzung bei der Rolle Deutschlands in der EU, in Europa und in der Welt. Der in den 1990er Jahren noch vornehmlich rückwärts gewandte Bezug auf die traditionelle „Westpolitik der alten“ Bundesrepublik verzögerte die Entstehung einer zeitgemäßen Neuorientierung. Es ging unter der Kohl-Regierung noch vorrangig um die innere ökonomisch-soziale Stabilisierung Deutschlands nach der Einheit. Die Führungselite war noch „nicht reif für die Weltpolitik“. (Vgl. WeltTrends 28, 2000)

Um die Jahrhundertwende, im Vorfeld der Bundestagswahlen 1998 und während der Rot-Grünen-Regierung fanden intensive Diskussion über eine konzeptionelle Neuausrichtung von Hauptelementen der Außen- und Sicherheitspolitik statt. (Vgl. insb. Bahr 1998) Im Ergebnis dessen, inklusive dem Kanzlerwechsel von Kohl zu Schröder, emanzipierte sich die deutsche Außenpolitik partiell. Es erfolgten konzeptionelle Neuorientierungen, wie der Ausbau „Strategischer Partnerschaften“ mit Russland und China sowie die Verweigerung einer Teilnahme am US-geführten Krieg gegen den Irak. Der neue Charakter einer interessengeleiteten, vorrangig ökonomisch determinierten Politik Deutschlands in Eurasien wurde deutlich. Die Auseinandersetzungen in den deutschen Führungseliten zwischen den USA-orientierten „Transatlantikern“ und den „Europäern“, die eine strategische Autonomie der EU/Deutschlands anstrebten, spitzten sich fortlaufend zu. Die Münchner Sicherheitskonferenz 2014 war ein Höhepunkt. Durch den Pseudo-Konsens einer „neuen deutschen Verantwortung“ – die, vom damaligen Bundespräsidenten Gauck und der Verteidigungsministerin von der Leyen, vorrangig militärisch artikuliert wurde – versuchten die „Transatlantiker“ aus ihrer Defensivposition herauszukommen. Es gelang ihnen jedoch nicht, die seit Jahrzehnten ablehnenden Positionen der Mehrheit der Bevölkerung (50–70 Prozent) zur Aufwertung des Militärischen in der Außenpolitik, insbesondere zum deutschen Truppeneinsatz im Ausland, umzustimmen.

Hegemoniale Vorstellungen deutscher EU-Dominanz nach 1990 – beispielhaft das „Kerneuropa-Konzept“ (1994, Schäuble-Lamers-Papier) – wurden nach 2000 sowie unter der Merkel-Regierung partiell zurückgenommen, gerieten spätestens 2010 in eine Sackgasse und scheiterten bislang an den Interessengegensätzen der EU-Staaten. Symptomatisch dafür sind u.a.:

Die unkoordinierten nationalen Maßnahmen zur Bewältigung der Weltwirtschaftskrise 2008–2012; das Scheitern der EU-Nachbarschaftspolitik „Ost“ (Kaukasus, Ukraine, Belarus) und „Süd“ (Mittelmeerraum ab 2011); die Flüchtlingswelle und das Scheitern der Dublin-Verträge (2014–2020); die zunehmende EU-Fragmentierung bezüglich der €-Union (insb. der Südstaaten); die Formierung von Regierungen mit autoritären Zügen (Italien/Österreich/Polen/Ungarn); eine Zunahme spaltender Tendenzen mit dem Extrem des Brexit (2016–2020); die Konflikte bei der Durchsetzung deutscher Russlandpolitik (z.B. Nord Stream 2); die Aufgabe der deutschen Blockade bei der Einführung von Corona-€-Bonds (2020); und in besonderer Weise die konzeptionellen Differenzen mit Frankreich in der Europapolitik um die „Strategische EU-Autonomie“, das Verhältnis zu den USA und zur NATO. Die deutsche Außenpolitik des letzten Jahrzehnts ist wesentlich geprägt durch z.T. aktionistisches Krisenmanagement, v.a. zur Stabilisierung der EU und der kriegsgebeutelten Nachbarregionen von Libyen über Syrien bis zur Ukraine.

Außenwirtschaftliche Expansion

Unter maßgeblicher Initiative der EU-Kernstaaten – hauptsächlich Deutschland und Frankreich – gelang es in den vergangenen drei Jahrzehnten, insbesondere mit der Schaffung des Gemeinsamen Markt (1993) und der Euro-Währungsunion (1999) die ökonomische Integration der Europäischen Union voranzutreiben. Gleichzeitig wurde mit großem Engagement Deutschlands die Mehrheit der mittel- und südosteuropäischenStaaten in die Union aufgenommen (2004/2007). Ein Schwerpunkt lag dabei auf der Integration Polens, als großer und ökonomisch potenter Nachbarstaat mit einer bemerkenswerten Entwicklungsdynamik. Darüber hinaus ist es ein Schlüsselland bei der Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen nach Osten. Die frühzeitige Gründung des „Weimarer Dreiecks“ 1991 – Frankreich, Deutschland, Polen – zur politischen Abstimmung und Stärkung der europäischen Integration blieb aber bislang hinter den gegenseitigen Erwartungen zurück. Hautprobleme sind dabei die unterschiedlichen Bewertungen der Beziehungen zu Russland, den USA und zu Aspekten der EU-Integration.

Mit der erweiterten EU entstand einer der weltweit größten, höchst produktiven Wirtschaftsräume, mit einer Bevölkerung von einer halben Milliarde sowie einer entwickelten Demokratie und Lebensqualität. Mit der Lissabon-Strategie (2000) und dem Grundlagenvertrag (2009) artikulierte die EU ihren Großmachtanspruch im multipolaren Weltgefüge des 21. Jahrhunderts.

Deutschland ist 2019 mit einem Bruttoinlandprodukt von ca. 3.449 Milliarden Euro (1.586 Milliarden Euro 1991) der wirtschaftlich stärkste Staat Europas und wurde nach der Jahrhundertwende zu einer global vernetzten geoökonomischen Macht. Von vitaler Bedeutung ist dabei die EU-Integration mit einem deutscher EUBIP- Anteil von über 20 Prozent. Sie stellt mit anteilig ca. 70–60 Prozent des deutschen Außenhandels, eine unverzichtbare ökonomische Basis für die nach 2000 überproportional wachsende Expansion Deutschlands in die Weltwirtschaft dar. Die Außenwirtschaftsquote stieg seit 1990 von ca. 40 auf 72 Prozent zum BIP und signalisiert eine außerordentlich hohe Wirtschaftsverflechtung bzw. Abhängigkeit vom Funktionieren eines „liberalen“ Welthandels. Deutschlands größte Handelspartner 2019 sind China (Ex-/Import 99:106 Milliarden Euro) und die USA (113:60 Milliarden Euro). Der Aufbau hoher Exportüberschüsse – verursacht durch eine Konzentration auf Hochtechnologiegüter, die Durchsetzung von Lohndumping zulasten der eigenen Bevölkerung (Lohnstopp 1995–2015) und Euro-Abwertungs-Manipulationen – steigerten sich von 1990 bis 2019 von unter 50 auf über 200 Milliarden Euro (bei insgesamt ca. 1.300:1.000 Milliarden Euro Ex-/Import). Die damit verbundene Euro- Einführung (1993–2002) erweist sich für Deutschland sowohl als ein festigendes, in der Bedeutung wachsendes währungspolitisches Instrument der EU-Integration, als auch zur Haushaltsdisziplinierung einzelner EU-Länder sowie zur globalen Machtprojektion in Konkurrenz zum Dollar-Raum. Anhaltende Handels-, Zoll- und Währungskonflikte insbesondere mit den USA sind auch unter der Biden-Administration vorprogrammiert.

Bemerkenswert ist die Dynamik der deutschen Wirtschaft ab Mitte der 1990er Jahre bei der globalen Expansion. Innerhalb einer Dekade wurden von den Kohl- und Schröder-Regierungen vorrangig ökonomisch bestimmte „strategische Partnerschaften“ zu den Großstaaten Eurasiens – Russland, China, Indien – in Gang gesetzt. Deutschland baute die USA bis 2005 zum außenwirtschaftlichen Hauptmarkt außerhalb Europas aus, mit mehr als einer Verdopplung der Exporte (66 Milliarden Euro) und einer sechsfachen Steigerung der Handelsüberschüsse (28 Milliarden Euro). Die von den USA ausgelöste Weltwirtschaftskrise 2008/2010 überwand Deutschland schneller als alle anderen EU-Partner und relativ unbeschadet. Die Handelsbeziehungen mit den USA wurden bis zur Gegenwart ausgebaut. Der Ex-/Import steigerte sich bis 2019 auf 113:60 Milliarden Euro. (Vgl. Zahlungsbilanzstatistik Mai 2006 und März 2020)

In der laufenden Corona-Krise 2020/2021 deutet sich, auch aufgrund der globalen Aufstellung und breiten Diversifikation der deutschen Wirtschaft ähnliches an. Die Wachstumseinbrüche von unter 10 Prozent im Jahr 2020 relativieren sich im Vergleich mit anderen hochentwickelten Industriestaaten. Der Aufschwung des Exportmarktes China und seinem Bedarf an deutschen Investitionsgütern zieht Deutschland partiell aus der Wirtschaftskrise. Insgesamt steht unter den Stichworten „Deglobalisierung bzw. Glokalisierung“ eine volkwirtschaftliche Reorganisation, eine neue Balance globaler und regionaler Wertschöpfungsketten, an.

Zu konstatieren sind jedoch auch, vorrangig verursacht durch Deutschlands nationalegoistische Handelspolitik und seinen Wohlstandschauvinismus, anhaltende Spannungen mit den USA und im EU-Integrationsverbund. Die Zuspitzung zentrifugaler Tendenzen in der EU ist jedoch nicht im Interesse Deutschlands und ihnen muss intensiv entgegnet werden. Hierfür bedarf es eines beschleunigten Aufbaus einer Europäischen Wirtschaftsunion, die schon 1992 in Maastricht mit der Währungsunion beschlossen wurde, deren Realisierung aber bislang nicht konsequent vorangetrieben wird.

Von einer Verteidigungs- zur Einsatzarmee

In Umsetzung des Zwei-plus-Vier-Vertrages (1990) erfolgte ein Abzug ausländischer Streitkräfte. Annähernd 750.000 Soldaten (insb. Russland 380.000, USA 220.000) verließen Deutschland. Die Personalstärke der Bundeswehr wurde seitdem von ca. 600.000 auf 182.000 reduziert, die Wehrpflicht 2011 ausgesetzt und eine Berufsarmee geschaffen. Die Entwicklung der Militärpolitik Deutschlands wurde konzeptionell vorbereitet durch Verteidigungspolitische Richtlinien (1992, 2003, 2011) und Weißbücher zur Sicherheitspolitik (1994, 2006, 2016). Nach einem intensiven Konversions- und Abrüstungsprozess von Personal und Großkampfwaffen fanden ab Mitte der 1990er Jahre waffentechnische Modernisierungen und die Umstrukturierung der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer „Armee im Einsatz“ statt. Eine völkerrechtlich strittige Uminterpretation des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht ging dem 1994 voraus.

Seit Anfang der 1990er Jahre wird die Bundeswehr im Ausland bei der Katastrophenhilfe und friedenserhaltenden Maßnahmen eingesetzt. Der völkerrechtswidrige Tabubruch erfolgt 1999 mit dem Kriegseinsatz im Kosovo unter der Rot-Grünen-Schröder-Regierung sowie ab 2002 mit der Teilnahme der Bundeswehr am anhaltenden Afghanistankrieg. Die über 40 Auslandseinsätze fanden prinzipiell im internationalen Verbund der NATO, EU und/oder UNO statt. Die Bevölkerung Deutschlands lehnt die Auslandeinsätze mehrheitlich ab. Unter der Merkel-Regierung erfolgte (auch deshalb) eine partielle Umorientierung. Nach dem Prinzip „Befähigung statt Beteiligung“ liegt der Schwerpunkt der Einsätze bei Unterstützung, Ausbildung, Trainingund Bewaffnung einheimischer Streitkräfte.

Der Verteidigungshaushalt Deutschlands ist von 1990 bis 2014 relativ stabil bei ca. 30 Milliarden Euro, bei Absenkung des BIP-Anteils von 2,7 auf 1,2 Prozent. Eine Trendumkehr bei der absoluten Steigerung wird 2014 mit dem „Zwei-Prozent-Beschluss“ der NATO in Wales eingeleitet. Bis 2020 steigerte Deutschland unter Anpassungsdruck der Trump-Administration seine Rüstungsausgaben pro Jahr auf 45 Milliarden Euro (1,3 % BIP-Anteil) und plant im neuen Bundeshaushalt über 50 Milliarden Euro. Parallel dazu durchlief der industrielle Rüstungskomplex Deutschland einen hocheffizienten Modernisierungsprozess. Die Zahl der Beschäftigten verringerte sich seit 1990 von über 350.000 auf gegenwärtig unter 100.000. Trotz gegenteiliger politischer Erklärungen ist der weltweite Rüstungsexport zur „Normalität“ geworden (seit 2000 jährlich ca. 2–5 Milliarden Euro) Deutschland stieg zum weltweit fünft-/viertgrößten Rüstungsexporteur auf. Unter Umgehung und Aushöhlung des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen werden Rüstungsgüter auch in Konflikt- und Kriegsregionen geliefert. Die subventionierte deutsche Rüstungsindustrie entzieht der Zivilwirtschaft Finanzen, qualifiziertes Personals, Forschungspotential und wertvolle Ressourcen.

Angesichts der Sinnkrise der NATO nach Auflösung des Ost-West-Konfliktes und dem wachsenden Misstrauen gegenüber den USA („Bündnisse der Willigen“, seit den Clinton- und Bush jr.-Administrationen Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre) forcierten die EU-Staaten eigenständige Verteidigungsanstrengungen. 1993 beschloss die EU in Maastricht im Rahmen einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Schaffung einer Europaarmee. Unter der Merkel-Regierung ab 2005 erhielt diese Orientierung neue Dynamik und wurde 2017 durch eine Ständige Strukturierte Rüstungszusammenarbeit (PESCO) erweitert. Ähnliche Ansätze scheiterten jedoch schon unter größeren Bedrohungsphobien mehrfach während des Kalten Krieges. Dennoch zeigt sich in der Tendenz eine auch von Deutschland betriebene EU-Orientierung auf eine stärkere Eigenständigkeit in der Verteidigungspolitik.

Dennoch ist zu konstatieren – militärisch auf sich selbst gestellt, verfügt Deutschland im Jahre 2020 nicht über Streitkräfte für eine langhaltende Intervention oder Kriegsführung. Es ist und will keine militärische Bedrohung für ein anderes Land sein und wird selbst von keinem Land bedroht. Mit dieser Situation ist die übergroße Mehrheit der Bevölkerung und auch das Gros der Führungskräfte Deutschlands in ihrer antimilitaristischen Grundhaltung zufrieden.

Zu einer entsprechenden Analyse und militärpolitischen bzw. zu rüstungsbegrenzenden Schlussfolgerungen ist ein beschränkter, aber in jüngster Zeit anwachsender, einflussreicher Kreis v.a. neokonservativer Transatlantiker bislang nicht bereit. Die Funktionsbesetzung der Verteidigungsminister, meist mit Personen ohne entsprechende Fachkenntnisse, erwies sich besonders während der großen Koalitionen der Merkel-Regierung ab 2005 als hinderlich bei der strategischen Ausrichtung und realistischen Zielbestimmung der deutschen Verteidigungspolitik. Das führte zu mehrfachem Scheitern von Bundeswehrreformen und impliziert kurzsichtige, kritikwürdig-konzeptionslose Einsatzaufgaben der Bundeswehr. In den vergangenen Jahrzehnten hatte die Bundesregierung das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr vor allem auf Auslandseinsätze vorrangig in Nah- und Mittelost und in Afrika ausgerichtet. Erfolgsquote nahe Null, die angestrebten Ziele wurden nicht erreicht. Seit 2014 orientiert sie wieder – bar einer realistischen Bedrohungsanalyse – auf strategische Anforderungen fiktiver Großmachtkonflikte mit Russland und China, wie aktuelle Dokumente bestätigen. (Vgl. Positionspapier 2021)

Der Prozess nuklearer und konventioneller Rüstungsbegrenzung und Abrüstung ist zum Stillstand gekommen. Deutschland setzt sich nur äußerst inkonsequent, vorrangig plakativ für seine Wiederaufnahme ein. Pseudoargumente sind dabei die fragile „Abschreckungsdoktrin“ der NATO und ominöse Bedrohungen durch Russland und andere. Beispielhaft dafür die Weigerung dem Vertrag über das Kernwaffenverbot (2017), der im Januar 2021 in Kraft trat, beizutreten. Während noch bis 2012 in Regierungskreisen Deutschlands die Aufgabe der „nuklearen Teilhabe“ und ein Abzug der US-Kernwaffen aus Deutschland gefordert wurde, ist diese Zielstellung seitdem aufgegeben worden. Ähnlich verhält es sich mit der konventionellen Abrüstung. Der erfolgreiche Vertrag zu konventionellen Streitkräften in Europa von 1990 und seine Fortsetzung 1999, der zur Abrüstung von über 60.000 schwere Waffensystemen führte, wurde 2011 beendet. Von der humanistischen Vorstellung der 1990er Jahre, durch Rüstungsbegrenzung/Abrüstung eine Friedendividende für die sozialökologische Transformation zu erzielen, hat sich die gegenwärtige Führung Deutschlands konzeptionell und praktisch entfremdet.

Umwelt- und Klimapolitik

Das 20. Jahrhundert war geprägt von zwei Weltkriegen, einer bipolaren Systemkonfrontation im Kalten Krieg und der Angst vor einem nuklearen Armageddon. Hauptgefahren der Weltzivilisation des 21. Jahrhunderts sind destabilisierende Klimaveränderungen mit ausufernden multiplen Krisen – Hunger, Wassermangel, regionale Verteilungskonflikte/-Kriege, Flüchtlingsströme, Naturkatastrophen. Die imaginäre Gefahr eines Atomkrieges wird seitens der Bevölkerung und der Führungseliten mehrheitlich überlagert vom Gefahrenbewusstsein real sichtbarer Umwelt- und Existenzkrisen. Der zivilisatorische Schwerpunktwechsel der Bedrohungswahrnehmung erweist sich günstig für eine neue deutsche Außen-, Sicherheits- und Umweltpolitik seit Anfang der 1990er Jahre. Dem tragen die Führungen Deutschlands zunehmend Rechnung, wenn auch inkonsequent.

Unmittelbar nach der deutschen Einheit fand 1992 die Umweltkonferenz von Rio de Janeiro statt. Dort wurden Schwerpunkte einer globalen Konzeption für Umwelt- und Klimastabilisierung für das 21. Jahrhundert beschlossen. Die EU/Deutschland brachte sich von Anbeginn aktiv ein. Ein sichtbarer umweltpolitischer Neuansatz zeigte sich in der Endphase der Kohl-Regierung. Mit dem „Kyoto-Protokoll“ (1997) zur Beschränkung des CO2-Ausstoss unter dem Niveau von 1990, begann sich in Deutschland ein neuer Gesellschaftskonsens durchzusetzen.

Der Durchbruch erfolgte unter der Rot-Grünen-Schröder Regierung ab 1998: Programmatische Umweltfestlegungen im Koalitionspapier (1998), Einleitung des Atomausstiegs/Energiewende (2000), Beschluss und regelmäßige Anpassung einer Nachhaltigkeitsstrategie für die nächsten Jahrzehnte (ab 2002). Gemeinsam mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie initiiert die Merkel-Regierung eine Strategie zur Rohstoff-/Energiesicherheit (2010, 2020) in der Trinität von Versorgung, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit. Deutschland wurde mit weltweit über 20 Prozent, ein Haupthersteller von Hochleistungstechnologie im Bereich Umweltschutz (EU über 50 Prozent). Diese Entwicklung ist eng verflochten mit den Erfolgen der exportorientierten Außenwirtschaftspolitik. Wenngleich Deutschland im Vergleich zu anderen großen Mächten – USA, China, Russland, Indien – relativ positiv zu bewerten ist (globaler Umwelt-Index EPI unter den ersten 15), bleibt auch seine Umwelt-/ Klimapolitik insgesamt eklatant hinter den internationalen Notwendigkeiten zurück. Auch in Mitteleuropa öffnet sich die Katastrophen-Schere weiter, zeigt sich eine deutliche Differenz von ökologischem Gefahrenbewusstsein und praktischer Umweltpolitik.

Migration

Die desaströsen Umweltkrisen seid eine Hauptursache zunehmender Flüchtlingsströme aus Afrika und Asien. Sie bewegen sich v.a. in Richtung der EU, nach Mittel- und Nordeuropa (nicht so nach China, Indien und Russland). Deutschland wurde nach 1990 und insbesondere ab 2015 zum Einwanderungsland mit sich entwikkeln der Integrationspolitik. (Vgl. Münkler 2016) Die Migration löste die stagnierende Bevölkerungsentwicklung auf, besonders den quantitativen Arbeitskräftemangel, spitzt jedoch Integrationsprobleme zu. Die Ursachenbekämpfung erfordert auch von Deutschland eine in der Jahrhundert-Dimension angelegte, grundsätzlich veränderte Entwicklungs-/ Außenwirtschaftspolitik, eine „neue Weltwirtschaftsordnung“, einen EU- „Marshallplan für/Compact with Africa“ (2017), geprägt durch wirtschaftspolitische Verteilungsgerechtigkeit. Entsprechende Überlegungen wurden in den vergangenen Jahren von Organisationen der Entwicklungshilfe, vom Entwicklungsministerium sowie vom Auswärtigem Amt angeregt, erreichten aber nicht die Ebene einer verbindlichen deutschen Gesetzgebung. Die Hauptkomponente bleibt vorerst eine auch von Deutschland aktiv vorangetriebene, kurzsichtige Politik der Abschottung an den EU-Außengrenzen (2004, Gründung „Frontex“).

Schlussfolgerungen

Die Außenpolitik Deutschlands/EU in der globalen Multipolarität des 21. Jahrhundert erfordert eine Stabilitätsstrategie in einem Staatenkonzert der politischen Pluralität. Geostrategische Schwerpunkte sind auf absehbare Zeit die großen Globalmächte Europäische Union, die USA und China. Darüber hinaus bedarf es einer engen Kooperation mit wichtigen kontinentalen Schlüsselstaaten, insbesondere mit Russland, Indien, Japan, Brasilien und Südafrika. Problematisch ist, dass nach einer scheinbaren Demokratisierung in den 1990 Jahren, besonders seit der Weltwirtschaftskrise 2008/2010 autoritäre Verhaltensweisen wieder zunehmen und sich entsprechende Machtstrukturen in einer Mehrzahl der großen Mächte durchsetzen. Dem stellt die EU/Deutschland eine demokratische Alternative entgegen. Die von der Merkel-Regierung praktizierte „werteorientierte Außenpolitik“ wird jedoch von der Mehrheit der Staaten – durchaus nachvollziehbar – als doppelbödig, „ethischer Imperialismus“ und „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ abgelehnt.

Für die Europäische Union hat die Stabilisierung und Vertiefung der Integration Priorität. Nur eine im Wesen geeinte EU kann den eigenen Anspruch einer politischökonomischen Weltmacht ausfüllen. Sie hat sich zu einem „globalen Taktgeber“ entwickelt, dem „es gelungen ist, einen ganzen Kontinent, auf dem sich die Menschen Jahrhundertelang zerfleischten, zu einem Modell für das 21. Jahrhundert zu machen. „Viel mehr Weltmacht geht nicht.“ (Fichtner 2021)

Unabdingbare Voraussetzung für eine Mitgestaltung der globalen Multipolarität ist dabei die souveräne Ausgestaltung einer „Strategischen Autonomie Europas“. (Vgl. Lippert & Perthes 2019) Dabei haben Deutschland und Frankreich im engen Bündnis, eine besondere europäische und globale Verantwortung. Der Aachener Vertrag von 2018 – in konsequenterer Kontinuität zum Élysée-Vertrag von 1963 – fordert eine Vertiefung ihrer „Zusammenarbeit in der Europapolitik. Sie setzen sich für eine wirksame und starke Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ein und stärken und vertiefen die Wirtschafts- und Währungsunion.“ Dem Geist dieses Vertrages sind deutsch-französischen Querelen über die „EU-Autonomie“ abträglich.

Die USA waren, sind und bleiben ein allseitig enger Bündnispartner Deutschlands. Die transatlantischen Beziehungen haben aber in den letzten Jahren einen „heilsamen Trump-Schock“ bei der deutschen Bevölkerung und großen Teilen der Führungselite ausgelöst. Die Biden-Administration wird in der Form moderater, aber im Kern eine ähnlich problematische interessengeleitete Politik praktizieren. Das erfordert eine Neubewertung der gegenseitigen Beziehungen, inklusive den Zusammenhängen mit China und Russland. Angesagt ist eine kritisch-selbstbewusste Distanz und nachdrückliche Konsequenz bei der Durchsetzung europäisch/deutscher Interessen. Die Auseinandersetzungen um die Neubewertung des Verhältnis Deutschland / EU zu den USA sind im Gange und werden die nächsten Jahre prägen.

Die Beziehungen Deutschland-China haben sich seit 1990 bis zur Gegenwart außerordentlich produktiv entwickelt. Seit 2011 finden regelmäßige Regierungskonsultationen statt. Das in den letzten zwei Jahrzehnten entstandene strategische De-facto-Bündnis China-Russland wird die internationalen Beziehungen des 21. Jahrhunderts wesentlich prägen und muss von Deutschland konzeptionell-strategisch berücksichtigt werden. Eine Ausweitung des chinesisch-russischen Freundschaftsvertrages von 2001 auf ein Militärbündnis ist absehbar. 2020 ist China erstmals wichtigster EU-Handelspartner geworden (586 Milliarden Euro) und über ein Investitionsabkommen zwischen beiden ökonomischen Großmächten wurde im Dezember eine Grundsatzeinigung erzielt. In diesem Zusammenhang ist die eurasische Achse EU-Russland-China für Deutschland mit Blick auf die Beschaffungs- und Absatzmärkte, ein vorrangiger ökonomischer Stabilisator für die eigene Entwicklung. In den letzten Jahren haben sich die Verhältnisse deutlich verkompliziert. Politische Differenzen belasten teilweise die bilateralen Beziehungen – Hongkong, Uiguren, Tibet, Taiwan, Südchinesisches Meer – und müssen sachlich behandelt werden. China wird seitens der EU/Deutschlands als „Partner, Wettbewerber und Rivale“ (Auswärtiges Amt 2020) gesehen, gemeinsam mit Russland – insbesondere von den „Neokonservativen“ – auch als Gegner. Die von den USA betriebene ökonomische „Entkopplung“ Chinas und Russlands vom Westen ist nicht im Interesse Deutschlands.

Der Text wurde zuerst in der Zeitschrfit Security Theory and Practice – Ausgabe 1 2021 „German security policy in the difficult times“ veröffentlicht. Die Zeitschrift wird an der Andrzej Frycz Modrzewski Krakow Universität herausgegeben. Er ist auch als PDF verfügbar. Eine gekürzte Version des Artikels erschien in WeltTrends – Das außenpolitische Journal Nr. 177 „Berliner Außenpolitik“.

Eine Besprechung des Themenschwerpunktes von WeltTrends findet sich auf den Seiten der Sputnik News Agency.

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