Dichter der Dekadenz – Sully Prudhomme (1839-1907)

Die Schwedischen Akademie vergab 2018 keinen Nobelpreis für Literatur. Die Mitglieder des Gremiums hatten sich nach öffentlichen Vorwürfen über sexuelle Nötigungen und veruntreute Gelder überworfen.[1]

Krisen sind Gelegenheiten, einen Blick zurück zu werfen. In loser Reihenfolge werden in diesem Blog Träger des Literaturnobelpreises und ihre Hauptwerke vorgestellt. Die Reihe beginnt mit dem ersten Preisträger: René François Armand Prudhomme – genannt Sully Prudhomme.

Zur Auswahl

Bekannte konservative Schriftsteller (u.a. Paul Bourget, André Theuriet) sowie angesehene Professoren der Philologie und Altertumskunde (u.a. Gaston Paris, Gaston Boissier) hatten sich für Prudhomme ausgesprochen. Ihre gemeinsame Einflussnahme gab letztlich den Ausschlag für einen – auch von der Akademie gewünschten – „Akademiker erster Ordnung“. Damit setzte er sich gegen Größen wie Émile Zola durch.

Biographische Eckpunkte

Der 1839 in Paris geborene Prudhomme führte ein beschauliches Leben. Nach seinem aus gesundheitlichen Gründen abgebrochenem Ingenieur- und dem bestandenen Jurastudium, arbeitete er zwei Jahre als Anwalt. Doch schon ab Mitte 20 entschied er sich für die Schriftstellerei. Fortan lebte Prudhomme nur noch von der Unterstützung seiner Verwanden, den begrenzten Einnahmen seiner literarischen Tätigkeit sowie ererbten Vermögen.

Im Leben von Prudhomme gab es keine Skandale. Weder engagierte er sich in politischen Bewegungen noch brachte er sich umfassend in künstlerische Diskussionen ein. Er gründete nie eine Familie und hatte keine Kinder.

Nur einmal wurde Prudhomme aus seinem Schneckenhaus gerissen. Nach dem fast gleichzeitigen Tod von Mutter, Schwester und Onkel meldet er sich 1870 freiwillig als Soldat im deutsch-französischen Krieg. Obwohl kein Einsatz seiner Infanterie-Einheit erfolgte, waren die körperlichen und wohl auch psychischen Anforderungen zu viel für ihn. Seine Gesundheit regenerierte sich nie wieder vollständig.

„Der Krieg raubte ihm die Gesundheit,
aber das Robuste, das einen vitalen Mann ausmacht,
brauchte er ihm nicht zu nehmen
das hatte Sully Prudhomme schon gar nicht auf die Welt mitbekommen.“
Hans Rosch (Betreuer der deutschen Nobelpreisreihe)

Trotzdem fanden seine mit Pathos erzählten Darstellungen des deutsch-französischen Krieges („Impressions de la Guerre“, „La France“) in intellektuellen Kreisen Beachtung. Sie trugen wesentlich zur Aufnahme in die Académie Française 1881 sowie zur Ernennung zum „Ritter der Ehrenlegion“ bei.

Dort blühte er auf und wurde Vorsitzender von Feiern zur Verherrlichung der Wissenschaften. Die damals geknüpften Kontakte waren wohl nicht unwichtig für die spätere Unterstützung führender Akademie-Mitglieder. In seinen letzten Lebensjahren gründete er mit dem Geld des Nobelpreises eine Stiftung zur Unterstützung junger Dichter. Der Preis trägt noch heute seinen Namen.[2]

Bewertung

Sully Prudhommes mit allgemeinen Sinnsprüchen angefüllten Essays, philosophischen Werke in Reimform und Gedichten sind heute weitgehend unbekannt. Schon zu Lebzeiten wurden seine geistige Tiefe vortäuschenden Werke kaum übersetzt. So erschien neben einzelnen Gedichten nur „Das Intime Tagebuch“ als Gesamtwerk in deutscher Sprache.

Der erste Nobelpreisträger steht exemplarisch für die Literatur des untergehenden Ancient Regimes. Rentiers, Teile der Staatsbürokratie und des Adels spürten, dass sich eine neue Gesellschaft Bahn brach. Kraftlos diese zu gestalten flüchteten sie sich in rückwärtsgewandte Traumwelten der Melancholie.

„Die Freude ist nur ein Waffenstillstand für das Leiden,
Glück könnte sein, sich dessen nicht bewusst zu werden.“
Prudhomme („Initimes Tagebuch“, S. 224)

Prudhomme bediente diese Lebenshaltung. Seine Werke durchzieht eine bedrückende Stimmungslage. Die Gedanken kreisen immer wieder um Trauer, Schmerz und Tod. Sie erinnern an die barocken Vanitas-Motive. Gleichwohl erreichte damals Luxus, Verschwendung und Größenwahn ein ganz anderes Niveau als beim kleinbürgerlichen Prudhomme.

„Gestern hat mir ein Brief weiterzuleben geholfen…
Dann kommt die Reaktion,
die Einsamkeit lässt sich niemals lange täuschen.“
Prudhomme („Initimes Tagebuch“, S. 181)

„Ich kenne nichts Wohltuenderes auf der Welt
als eine Unterhaltung mit einem Freund
über schmerzliche Dinge.“
Prudhomme („Initimes Tagebuch“, S. 239)

Ebenfalls finden sich in seinem Werk eine permanente Selbsterniedrigung. Prudhomme zweifelt ständig – an seinen Fähigkeiten, am Lebenssinn, an der Welt…

„Meine Gedichte vorzulesen, ist mir eine Marter;
in einem Salon eigene Verse vorzutragen,
erschien mir immer als eine Anmaßung.
[…] Ich bin wohl mittelmäßig, aber ich finde mich damit ab.“
Prudhomme („Initimes Tagebuch“, S. 71f)

Sully Prudhomme – Retouschierte Fotografie

Frauen, Familie und Gesellschaft

Für Prudhomme basiert die „natürliche Ordnung“ auf der Familie mit dem Mann als Oberhaupt. Die Liebe der Kinder und wohl auch der Frau ist die von der Natur gegebene „Liebe für die Ketten“ der „erhabenen Knechtschaft“.

„Ehe und Erziehung sind ohne Unterordnung nicht denkbar,
ohne Gehorsam des Schwächeren dem Stärkeren […] gegenüber.
Das Kind muss gehorchen oder sterben. […]
So ist der Mann Herr im Hause, weil er die Steine zu seinem Bau ausgehoben hat.
[… Ist die Frau] bei ihm muss auch sie gehorchen.“
Prudhomme („Initimes Tagebuch“, S. 133)

Das Vaterland ist die Fortführung dieser Gemeinschaft. Gesellschaften basieren nicht auf Recht oder einem Gesellschaftsvertrag à la Rousseau, sondern auf dem „natürlich Guten“, dass in jedem Menschen angelegt ist. Wenn sich dieses nicht durchsetzen kann, muss es erzwungen werden. Im Rahmen dieser Naturrechts-Argumentation lehnt er, ohne die Begriffe zu verwenden, Demokratie sowie Rechtsstaat ab und spricht verächtlich von Politikern.

Zu dieser politischen Haltung passt sein Frauenbild. Für ihn existieren nur zwei Arten von Frauen: Einerseits keusche, engelsgleiche Madonnen. Neben Schönheit besitzen sie keine allzu hohe Bildung und gehen keiner Erwerbsarbeit nach. Andererseits existieren die „Koketten“. Sie haben es nur auf Verführung und das Verderben der Männer abgesehen. Ehrenhafte Männer sollten sich von ihr fernhalten.

„Wenn eine Frau wirklich keusch ist, dann kann sie nicht verdorben werden;
ich glaube nicht so leicht an das moralische Versagen der engelhaften Frauen.“
Prudhomme („Initimes Tagebuch“, S. 60)

Erwerbsarbeit und Bildung verderben für Prudhomme bei Frauen den Charakter bzw. verschlechtern das Aussehen – eine der wichtigsten weiblichen Eigenschaften.

„Ich begreife nicht warum eine hässliche Frau auf einen Ball erscheint;
das ist ein Widersinn, […]
Eine hässliche, mit Schmuck behängte Frau ist und kann nur sein
ein ungefüges Stück Holz,
man bedauert, dass ihre Kleider sie nicht ganz verstecken.“
Prudhomme („Initimes Tagebuch“, S. 126)

Verachtung Wirtschaft und produktive Schichten

Zur Lebenshaltung zählt die Ablehnung wirtschaftspolitischer Themen. Diese stören bei der geistigen und moralischen Entfaltung.

„Der ununterbrochene Umgang mit der Ware und der Kasse
kann eine Seele […] nur erniedrigen;
Die Freuden der Kunst und der Wissenschaft sind so stolz und so empfindlich,
dass sie sich mit derartigen Beschäftigungen nicht begnügen können.“
Prudhomme („Initimes Tagebuch“, S. 144)

Im damaligen Ancient Regime lagen Wirtschaftswachstum als auch Inflation auf niedrigem Niveau. Einkünfte aus (ererbten) Vermögen und staatliche Alimente ermöglichten einen durch Arbeitseinkommen unerreichbaren Lebensstandard. So lag die beste Zeit des Lebens von Prudhomme nach der Ernennung zum „Ritter der Ehrenlegion“. Die damit verbundene staatliche Patronage reichte für ein auskömmliches Leben. Wie Prudhomme strebte die Ober- und Mittelschicht danach, solche Renteneinkommen zu erlangen.

„Unter diesen Bedingungen ist es nahezu unvermeidlich, dass die ererbten Vermögen eine wesentlich größere Rolle spielen als die im Laufe eines Arbeitslebens gebildeten, und das die Kapitalkonzentration ein derart hohes Niveau erreicht, dass sie mit dem Leistungsprinzip und den Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit […] nicht mehr vereinbar ist.“
Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“, S. 46)

Diese Klassengegensätze auch nur zu benennen liegt Prudhomme fern. Im Gegensatz zu Honoré de Balzac oder Émile Zola setzt er sich nicht mit den sozialen Gegensätzen seiner Zeit auseinander, sondern rechtfertigt sie pauschal als „natürliche Ordnung“. Gleichzeitig strebt er die Zuneigung der Rentiers an. Sie umschmeichelt er, an ihren Geschmack orientiert er sich.

„Der Redner begnügt sich auch mit einer sehr gemischten Zuhörerschaft,
der Dichter sucht eine Elite.“
Prudhomme („Initimes Tagebuch“, S. 235)

Für die arbeitende Mehrheit der Bevölkerung bleibt da fast nur Verachtung. Es sind für ihn kleingeistig Menschen, die die Größe von Literatur, Gefühlen und Poesie nicht erkennen können.

„Ein Banklehrling ist glücklicher als ich;
unbekümmert trägt er seine Livree;
er spürt nicht, dass man ihn erniedrigt;
ein stumpfes Herz ist eine Wohltat des Himmels.“
Prudhomme („Initimes Tagebuch“, S. 78)

Konsequenterweise beschäftigt sich Prudhomme ausschließlich mit „seinen“ bürgerlich-adligen Kreisen. Proletarier, Arme … kommen nicht vor. Aber auch (begrenzte) Kontakte zu Entscheidungsträger seiner Zeit – Offiziere, Professoren und Verwaltungs-Beamten – nutzt Prudhomme nicht, um in ihre Berufs- und Gedankenwelt einzudringen. Es bleiben Soirée-Bekanntschaften mit denen über „geistige Themen“ philosophiert wird. Nur konsequent, dass er sich nicht zu den politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit positioniert.

Fazit

„Warum er dennoch den ersten Nobelpreis für Literatur erhielt,
lässt sich nur aus dem Lebensgefühl seiner Epoche beantworten.
[…] weil kaum einer […] deutlicher als er den Zeitgeist verkörperte.“
Hans Rosch (Betreuer der deutschen Nobelpreisreihe)

Prudhommes Werk ist zu Recht weitgehend vergessen. Schon damals richtete es sich an die Ewig-Gestrigen. Die Geschichte ging über ihn hinweg. Kritiker sahen damals die Schwedischen Akademie als „konservatives Bollwerk der Reaktion und der Dunkelmänner“[3]. Sie behielten Recht und das Komitee wählte ihren Hofdichter zum ersten Nobelpreisträger.

Sollte man Prudhomme lesen? Ja – ein(!) Werk sollten sie durchblättern(!).

Wer ihn liest versteht, warum die Schicht der Rentiers schlafwandelnd in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts taumeln und untergehen musste. Die „Euthanasie der Rentiers“[4] durch Besteuerung und Inflation war historisch richtig. Ihnen gehörte die Zukunft genauso wenig, wie ihren heutigen Äquivalenten.


Fußnoten

[1] Vgl. Diez, Georg: Kampf um die Ehre; Der Spiegel 16/2018, S. 112-114.

[2] Aubarède; Gabriel de: Leben und Werk Sully Prodhommes; in Coron Verlag: Sully Prudhomme – Intimes Tagebuch; Sammlung Nobelpreis für Literatur, Nobelpreis 1901, S. 47.

[3] Vgl. Ahlström, Gunnar: Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises an Sully Prudhomme; in Coron Verlag: Sully Prudhomme – Intimes Tagebuch; Sammlung Nobelpreis für Literatur, Nobelpreis 1901, S. 10.

[4] John Maynard Keynes – nach Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert; München: C.H.Beck 2014, S. 179.

Bildrechte

Titelbild: Sully Prudhomme 1901. Lizenz: Gemeinfrei.

Bild 1: Sully Prudhomme Autor: Retouschiert von Jebulon. Lizenz: Gemeinfrei.

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