Am 31. März bzw. dem 01. April 2023 veröffentlichte Telepolis einen von mir geschriebenen Zweiteiler. Dieser beschäftigt sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Ukraine seit dem Einmarsch Russlands. (Teil 1 und Teil 2)
Wie bei anderen Artikeln versuchte ich die Kommentare im Telepolis-Forum auszuwerten. Nach mehreren Anläufen inkl. mehreren Seiten Notizen wurde das „Projekt“ abgebrochen. Die Quantität der verschachtelten Kommentare (über 600) macht eine vollständige Aufbereitung zu zeitintensiv. Auch ist der weitere Erkenntnisgewinn über die Auswertung meines Ukraine-Artikels vom November 2022 hinaus eher begrenzt.
Drei Punkte fielen mir aber doch auf:
1. Stillstand im Austausch
Es erstaunt, wie festgefahren die Diskussion ist. Aussagen, Style und Diskutanten unterscheiden sich kaum von der Auswertung im November 2022. Wie damals wird auf das eigentliche Thema – „ukrainische Wirtschaft“ – kaum eingegangen. Mein persönliches Teilziel, durch Lesen der Kommentare sich thematisch weiterzuentwickeln, wird nicht erreicht. Aber es gibt Lichtblicke, die sich doch zum Thema äußern. Eins der wenigen Beispiele ist der Thread von ollid, Andreaskreuz und Lisbeth1888.
Natürlich findet auch der oben erwähnte Austausch nicht ohne Diffamierungen der radikalen „pro-ukrainischen Fraktion“ statt.
Der gefühlte Stillstand erstaunt. Nach fast 1,5 Jahren des Krieges müsste es Entwicklungen – ja vielleicht sogar Einsichten und Konsens geben. Warum das nur wenig geschieht oder zumindest so wenig geäußert wird, darüber ist nachzudenken. Eine Antwort liegt wohl auch im fehlenden Realismus der hiesigen Medienlandschaft. Es gibt zu wenig (reichweitenstarke) Medien wie Telepolis – die sich dem bewußt entgegen stellen.
2. Steigerung persönlicher Angriffe
Aus meiner subjektiven Sicht nehmen die persönlichen Angriffe deutlich an Schärfe zu. Die üblichen Verdächtigungen, dass der Artikel aus Moskau bestellt sei oder sich im Forum „russische Kollaborateure“ befänden, sind schon fast Gewohnheit. Aber die Gleichsetzung von nicht pro-ukrainischen Positionen und Antisemitismus ist doch ein anderes Niveau. Gegenüber solchen Beleidigungen ist man (fast) sprachlos. Und das ist wohl das Ziel solcher Verleumdungen.
Angesichts der deutschen Geschichte stellen solche Argumente einen gefährlichen Weg dar. Sie relativieren den Hass gegenüber Juden. Will man diese Geister wirklich rufen?
3. Verrohung und schwindendes Mitleid
Die immer radikaleren persönlichen Angriffe gehen mit einer Verrohung der Sprache einher. So findet sich zunehmend der Vorwurf auf „ukrainische Opfer“, die „ukrainische Nation“ bzw. das „ukrainische Volk“ „zu spucken“. Einer von mehreren Vorfällen findet sich hier.
Ausgangspunkt der verlinkten Entgleisung war der nicht nur an einer Stelle vorgebrachte Standpunkt, über den Tod von (russischen) Soldaten keine Witze zu machen. Explosionen von Panzern (und deren sterbende Besatzungen) sollten nicht als „Turmhochwurf“ bezeichnet werden.
Das Mitleid mit den Opfern des Krieges schwindet. Auch um die „eigenen“ Toten wird nicht getrauert. Im Gegenteil, man trägt sie wie eine Monstranz vor sich her. Entmenschlicht dienen sie als Beweise für die Abscheulichkeit des Gegners. Nach der Erfüllung ihres Zwecks werden die Toten verleugnet. Die immer wieder zitierte offizielle Zahl von ca. 9.000 ukrainischen Kriegstoten ist grotesk niedrig – von der Anzahl der toten Soldaten ganz zu schweigen. Aber eine Fortführung des Krieges bei zu vielen zivilen Toten wäre wohl nicht zu rechtfertigen.
Die Instrumentalisierung der Toten geht einher mit immer radikaleren Forderungen zu einer Ausweitung des Krieges. Dadurch entstehendes weiteres Leid wird in Kauf genommen.
Es ist schwierig, dagegen eine pazifistische Position zu formulieren. Aber etliche Kommentatoren tun es erfolgreich. So zum Beispiel AlterWeisserChauvi-UndDasIstGut. Vielen Dank dafür!

Die zunehmende Härte der Auseinandersetzung führt auch zu steigenden Eingriffen der Moderatoren. Die Anzahl der gesperrten Beträge nimmt deutlich zu. Die Moderation verändert sich sichtlich. Wie auch von der Redaktion angekündigt.
Es ist zu hoffen, dass es die Diskussionskultur verbessert. Aber solche Prozesse brauchen Zeit. Wie groß der politische Druck ist, lassen die lesenwerten Berichte aus der Redaktion nur erahnen. Wir drücken die Daumen das Telepolis – diese wichtige Säule in der Medienlandschaft – sich gut weiterentwickelt.

4. Feinheiten von Sprache und Begrifflichkeiten
Liest man die Kommentarspalten fallen sprachliche Details auf.
a) DU oder SIE
Gefühlt findet bei den Kommentierenden ein ständiger Wechsel zwischen der Anrede „DU“ und „SIE“ statt. Wenn es beleidigend wird, wird wohl das „DU“ bevorzugt – DU Leugner, DU Putinpuppe, DU spuckst etc.
Will die schreibende Person aber seriös wirken, wird eher ein „SIE“ gewäht. „Hätte SIE darüber Informationen? ….“
Die Verwendung der Anreden wäre wohl Stoff für eine spannende Studie im Fachbereich Germanistik. Jemand Interesse? Ich würde eine solche mit Material und Hilfestellung unterstützen.
Eigene Position
Die Netiquette bevorzugt eigentlich das DU – besonders in Foren. Aber in solchen Diskussionen ist es wohl besser, erstmal mit SIE zu beginnen. Wenn sich eine positive Kommunikation entwickelt und der/die Gesprächspartner duzen, kann sich angepasst werden. Wird das Gespräch unangenehm, konsequent beim SIE bleiben. Nicht auf das DU der anderen einlassen.
b) Klare Sprache ist besser
Immer wieder fallen Abkürzungen wie MSM (Main Stream Media) oder die Verwendung von Memes auf („Russland kauft viele Waschmaschinen“ zwinker-smiley-weißt-bescheid-ne).
Eigene Position
Kryptische Abkürzungen oder einfache Memes sind möglichst zu unterlassen. Sonst wandelt sich die Debatte in ein sektenartiges Insidergespräch. Die Öffnung nach außen, durch die Nutzung frei zugänglicher Foren, wird so konterkariert. Ebenfalls wird es dann meist oberflächlich.
Um bei den Waschmaschinen zu bleiben: Ist der Import von Waschmaschinen in Russland wirklich gestiegen? Wenn ja – zum Zweck der Ausschlachtung durch die Militärs oder weil die russische Zivil-Produktion auf Kriegswirtschaft umstellte? Oder vielleicht änderten sich nur die Deklarationen beim Zoll – weg von sanktionierten Militärgerät hin zu „freien“ Waschmaschinen und Kühlschränken? Warum werden ganze Maschinen geschmuggelt und nicht die ausgebauten Chips und Halbleiter? Ein einziger LKW kann den Chipbestand tausender Waschmaschinen transportieren. Und warum kauft Russlands Militär die Chips nicht direkt von den asiatischen Produzenten – sondern über deutsche Fabrikanten von Waschmaschinen? In Asien trägt kaum ein Staat die Sanktionen mit. Und fast alle der in Deutschland verbauten Chips werden aus Asien importiert. So viele Fragen… Aber wer braucht sie schon, wenn es von NATO-Offiziellen gestützte Propaganda-Memes gibt.
c) Begrifflichkeiten haben eine Bedeutung
Mit der Schärfe der Diskussion wird auch die Wortwahl immer entscheidender.
Die Vorgänge 2014: War es ein Umsturz, ein Putsch, eine Revolution oder gar eine Befreiung? Ist es ein: Ukraine-Konflikt, Ukraine-Krieg, russisch-ukrainischer Krieg oder ein Krieg gegen die Ukraine? Sind Donbas und Luhansk zu Russland übergetreten, wurden sie annektiert oder besetzt? Ist die derzeitige Ukraine bankrott oder pleite?
Zu letzterem ein interessanter Schlagabtausch zwischen heiner49 und ollid.
Eigene Position
Hinter Begriffen stehen Positionierungen und Wertungen. Es ist wichtig, sich damit mehr auseinanderzusetzen. Es wäre überlegenswert, eine Liste zu erstellen, welche Begriffe wird bei welchem Ereignis genutzt und vor allem warum. Es gehört zur Ehrlichkeit sich selbst gegenüber dazu, zu notieren, wenn die Zuschreibungen wechseln.
Interessanter Gedanke
siar stellte richtig fest, dass die ukrainische Regierung keine (westliche) Marionette ist. Sie war und ist selbstständig handelnder Akteur. Sie traf und trifft eigene Entscheidungen. Die Konsequenzen des Krieges, müssen auch den ukrainischen Eliten zugerechnet werden.
„Das Land hätte Minsk II umsetzen können, man hätte mit Russland reden können, doch Selenszkyj zog es vor den Angriff auf den Donbass und die Krim zu verkünden. Man hätte es sich als Pufferstaat zwischen den Mächten gemütlich einrichten und von beiden Seiten profitieren können, doch man hat sich für einen Staatsstreich und für eine Seite entschieden.“
Hier sollte ergänzt werden, dass auch der Abbruch der Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022 eine souveräne Entscheidung der ukrainischen Regierung war. Ja – es gab einen westlichen Einfluss, personifiziert durch den persönlichen Einsatz von Boris Johnson. Aber die Ukraine hätte dem nicht folgen müssen. (Dazu eine interessante Quellensammlung, erstellt von DER LINKEN bei einer Anfrage im Bundestag.) Natürlich gilt diese Argumentation auch für andere Regierungen – sei es die US-amerikanische, die russische oder die deutsche.
Na ein paar wichtige und richtige Dinge lernt man doch, wenn man das Telepolis-Forum liest. Also auf ein nächstes Mal.
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