Die Versprechen der sozialen Netzwerke sind einfach. Alle Nutzer haben den gleichen Einfluss. Alle können ihre Botschaften an alle anderen Nutzer der Plattform verbreiten. Aber egalisieren Soziale Medien den Diskurs wirklich?
1. Haben alle Tweets die gleiche Reichweite?
In der Studie mit dem Titel „Who Says What to Whom on Twitter“ von Wu et al. wird die Kommunikation auf X (damals Twitter) im Zeitraum 28. Juli 2009 bis 8. März 2010 untersucht. (Wu et al. 2011) Die Wissenschaftler analysierten dabei die öffentlich zugänglichen Twitter- bzw. X-Listen der damals 42 Millionen Accounts. (Wu et al. 2011, S. 3)
„Eine Twitter Liste ist […] eine benutzerdefinierte Timeline, in der sich nur Tweets der Accounts befinden, die du wirklich sehen möchtest. Du kannst zum Beispiel eine Twitter Liste mit dem Namen ´Meinungsführer der Branche` erstellen und darin die Accounts deiner Lieblingsexperten aufnehmen. Zusätzlich zur Zeitersparnis.“
Lindsay Crider (2025) auf X.com
Spannende Frage war, wie sich die Verteilung der Accounts über die Listen darstellt? Bei einer gleichwertigen Kommunikation hätten alle annähernd gleich oft in den Listen vorkommen müssen. Alle Tweets / Botschaften hätten dann eine vergleichbare Reichweite.
2. Ungleichheit der Kommunikation
Im Gegensatz zur theoretischen Annahme einer gleichberechtigten Kommunikation zeigten die Daten erhebliche Ungleichgewichte. Während über die Hälfte der Nutzer nicht mehr als 100 Follower hatten, erreichten wenige Sender Millionen an Rezipienten. Das Ungleichgewicht nahm mit der Größe der Kanäle zu. Hintergrund war, dass Accounts mit hohen Reichweiten nur wenigen anderen folgten. In Folge zerfällt die Kommunikation auf X in eine Mischung aus persönlicher Kommunikation (von kleinem zu kleinem Sender/Empfänger) und „klassischer“ Massenkommunikation (von einem Großsender zu einer Vielzahl kleiner Empfänger ohne reale Antwortmöglichkeit). (Wu et al. 2011, S. 3)
Das zeigte sich in der Studie auch in der Verteilung auf den Listen. Von den 42 Mio. Accounts fanden sich nur ca. 520.000 auf den Listen. Über 87 Prozent der Accounts waren nicht gesondert abonniert. Ein deutliches Indiz dafür, das diesen kaum jemand folgte. Sie waren letztlich nur Empfänger. Selbst wenn sie Botschaften sendeten, las sie kaum jemand. Andersherum – nur etwas mehr als 10 Prozent aller potentieller Sender hatten eine echte Relevanz für das Netzwerk in Bezug auf die Schaffung und Verbreitung von Inhalten.
3. Segmentierung der Nutzer – Elite und der Rest
Die Forscher unterteilten die in Listen vermerkten Accounts in zwei Gruppen: Einerseits die gewöhnlichen („Ordinary“) sowie die Elite. Als Elite definierten Wu et al. die Top 5.000 häufigsten Accounts in den Listen für die Kategorien Celebrity, Blog, Medien und Organisation. Wobei die Wissenschaftler konstatierten, dass die Verschiebung dieser Grenze kaum etwas an den Ergebnissen verändert. (Wu et al. 2011, S. 6) Jenseits der Top 2.000 waren fast gar keine Veränderung der Werte mehr sichtbar. Eine gewisse Ausnahme stellte der Bereich Celebrities dar, wo diese Grenze tendenzielle erst ab den Top 4.000 eintrat.
Es zeigte sich eine doppelte Konzentration in der Reichweite. Beispiel Celebrity: Für diese Kategorie fanden sich etwas weniger als 83.000 Accounts in den Listen. Das Publikum stufte nur 0,2 Prozent aller 42 Millionen Accounts beim Thema Celebrity als wichtig ein. Zusätzlich vereinigten die Top 4.000 dieser „Elite“ knapp 20 Prozent aller Friends sprich Follower auf sich und erzeugten knapp 30 Prozent aller gelesenen Tweets dieser Kategorie. Diese 0,0095 Prozent der Accounts dominierten die Kommunikation bei X in dieser Kategorie. (Wu et al. 2011, S. 6)
In den anderen drei Kategorien gab es deutlich geringere Konzentrationsgrade. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Zuordnung zu allgemein war. Wären engere Verknüpfungen gewählt worden, hätten sich ähnliche Werte ergeben. Die Daten sind ein Hinweis darauf, dass viele Accounts auf X an ein spezialisiertes Publikum adressieren. Beispielsweise überschneidet sich die Leserschaft eine Blog-Accounts zum Thema Klemmbausteine eher wenig mit denen zum Thema Landschaftsarchitektur.
4. Aktivität = Sichtbarkeit
Die Studie zeigte eine deutliche Korrelation zwischen Aktivität und Reichweite. Einerseits waren Accounts, die im untersuchten Zeitraum mehr als einen Tweet pro Woche absetzten, zu 85% auch in führenden Positionen auf den Listen vertreten. (Wu et al. 2011, S. 5)
Andererseits hatten die Elite-Accounts eine weit überdurchschnittliche Produktion von Tweets. Um die Analyse zu vereinfachen, konzentrierten sich Wu et al. auf Tweets mit einer Url. Während Ordinary-Accounts im untersuchten Zeitraum ca. 6 Tweets mit URLs veröffentlichten, lag dieser Wert bei der Elite teilweise um den Faktor 150 höher. Wohlgemerkt waren die hier aufgeführten Ordinary-Accounts bereits in einer Liste vermerkt. Die Vermutung liegt nahe, dass Accounts die nicht auf Listen vermerkt waren, im Durchschnitt noch weniger Posts haben.
Die extrem hohen Werte bei Medien waren wohl dem Forschungsansatz geschuldet, der sich auf Tweets mit URL fokussierte. X war/ist für Medienunternehmen primär ein Marketing-Instrument um Kunden auf ihre Homepages zu locken. Entsprechend oft verwenden sie Links. Trotzdem zeigten die Zahlen ein krasses Ungleichgewicht bei der Kommunikation. Nur wenige Elite-Accounts dominierten die gesamte Kommunikation – sowohl bei Reichweite als auch Quantität der Post.
5. Schlussfolgerung
A) Die Kommunikation in sozialen Netzwerken war und ist nicht gleichberechtigt. Weniger als 0,1 Prozent der Sender dominieren – sowohl in Bezug auf die Quantität der Beiträge als auch der Reichweite. Die Bedeutung dieser „Elite“ steigt je kleinteiliger das Thema wird. Gleichzeitig sind fast 90 Prozent der Nutzer de facto nur Empfänger. Selbst dort wo sie senden, sind Reichweite und Einfluss nur minimal. Die Hoffnung auf einen neuen Bitterfelder Weg (Kleinwächter 2015) erfüllt sich nur bedingt.
B) Aktivität und Reichweite korrelieren miteinander. Letztlich ist die Quantität der Posts entscheidender als Qualität. Sehr aktive Accounts mit mehr als einen Post pro Woche haben tendenziell die höchsten Reichweiten. Aber es gilt auch umgekehrt: Ohne überdurchschnittliche Aktivität folgt einem Account auch kaum jemand.
C) Es kommunizieren nicht Alle mit Allen. Stattdessen findet eine Gruppenbildung statt. Innerhalb der Gruppen wird stark kommuniziert, zwischen diesen eher weniger. Wobei Nutzer in mehreren Gruppen aktiv sein können. Dadurch wird die Reichweite von Elite-Sendern begrenzt. Sie dominieren in ihrem Themengebiet bzw. ihrer Gruppe. Aber über diese hinaus sinkt ihre Reichweite stark.
D) Soll der Diskurs beeinflusst werden, müssen Top Sender für das Themengebiet die Botschaften aufnehmen bzw. verbreiten. Eine Handvoll thematischer Elite-Sender sind um ein vielfaches bedeutender als 100.000de außerhalb der Gruppen mit Mini-Reichweite.
Literaturverzeichnis
Crider, Lindsay (2025): So können Marken auf Twitter die Funktion „angeheftete Listen“ verwenden. Hg. v. X.com.
Kleinwächter, Kai (2020): Demokratische (IT)-Gesellschaft; Potsdam: zeitgedanken.blog.
Wu, Shaomei; Hofman, Jake M.; Mason, Winter A.; Watts, Ducan J. (2011): Who Says What to Whom on Twitter. Yahoo Research.
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