Gedanken zum 1. Mai

Die kapitalistische Gesellschaft beruht auf einer dialektischen Beziehung von Angestellten und Kapitalisten. Beide Seiten haben gemeinsame, aber auch unterschiedliche Interessen. Zentrales Konfliktfeld ist die Verteilung der (potentiellen) Unternehmensüberschüsse. Themenfelder wie Lohngestaltung, Arbeitsplatzsicherheit, Personalausstattung oder soziale Absicherung sind die konkrete Ausgestaltung des primären Konfliktes.

In der sozialen Marktwirtschaft mildert der Sozialstaat diesen Konflikt – aufheben kann er ihn nicht. Im Gegenteil, der umfassende Staatssektor mit seinen Beschäftigten wird selbst Teil der Auseinandersetzung.

Der Kämpfe der Werktätigen sind damit keine Folklore, sondern notwendig um den Angestellten ihren Teil der Produktion zu sichern – ohne den (ironischerweise) auch die Unternehmensseite untergehen würde.

Vier Thesen zum diesjährigen Tag der Werktätigen.

1. Generationswechsel

Es vollzieht sich ein Generationswechsel – bei den Demonstrierenden, aber vor allem bei den Organisatoren. Selten waren die Rednertribünen so jung.

Beispielhaft dafür steht die Rednerliste auf der Gewerkschafts-Demonstration in Berlin: Okay – Der Hauptredner war mit Jörg Hofmann (Erster Vorsitzender der IG Metall) 67 Jahre alt. Dann aber hielten Susanne Kielkowski (EVG; 35 Jahre), Stephan Weh (GdP; 44 Jahre), Anja Voigt (ver.di; 50) und Tom Erdmann (GEW; 40 Jahre) gute Beiträge.

Es übernimmt eine neue Generation zwischen 30 und 50 Jahren. Sie treten anders auf – frischer und kämpferischer. Und ja – dabei sind die Reden (noch) nicht so routiniert wie vom manchem alten Kader. Manchmal zittert noch die Stimme oder tragen die Emotion davon – aber das gehört dazu. Es macht mehr Spaß ihnen zuzuhören. Ihre Reden sind nah an der realen Arbeitswelt. Und darauf kommt es an.

Die neue Generation prägt auch die andere Seite der Tribüne. Die ganz Alten werden weniger. Die Anzahl Jüngerer oft auch mit Kindern steigt. Es kommt wieder eine höhere Lebendigkeit in die Veranstaltungen. In Großstädten wie Berlin ist das noch nicht so spürbar, aber in Mittelstädten wie Potsdam schon deutlicher sichtbar. Damit geht (bisher) leider einher, dass tendenziell die Massenmobilisierung abnimmt.

Hier stellt sich dir Frage, warum soziale Bewegungen in Deutschland eine so geringe Mobilisierungskraft haben? Die revolutionäre Maidemonstration konnte ihre Anzahl der Teilnehmer stabilisieren – bei ca. 15.000. Und in Frankreich formieren sich Massenproteste als Antwort auf eine neoliberale Rentenreform. (Klingsieck 2023)

2. Neue Organisationen

Mit dem Generationswechsel deuten sich Verschiebungen der politischen Kräfte an. Die Revolutionäre Demonstration bleibt friedlich – die Krawalltouristen suchen sich neue Events. Gleichzeitig treten neue zivile Organisationen hervor.

Die Gewerkschaften gewinnen wieder an Kraft und weiten ihren Blick. Sie positionieren sich progressiv zur Klima- und Energiewende sowie Ukraine- und Migrationsfragen. (Deutscher Gewerkschaftsbund 2023) Dabei gehen sie auch aktiv neue Bündnisse ein Fridays for Future, attac und ICANN. Parallel dazu wird die alte Trennung der Einzelgewerkschaften aufgebrochen. So kooperiert Verdi jetzt stark mit der EVG für die bessere Durchsetzung der Verkehrswende. (Zeise 2023)

Hintergrund dieser Neuausrichtung sind auch neue wissenschaftlich untersetzte Konzepte zu gewerkschaftlichen Strategien. Die langsam einsetzende intellektuelle Erneuerung der 2000 Jahre beginnt Früchte zu tragen. (Weiermann 2023) Insbesondere die Bahngewerkschaft EVG hat sich den neuen Realitäten angepasst und führt branchenübergreifende Tarifverhandlungen. Angesichts des inzwischen zersplitterten Bahnsektor eine traurige Notwendigkeit. (Wallrodt 2023)

Die traditionellen „Arbeiter“-Parteien SPD und LINKE sind in Großstädten bei den Maifeiern immer noch prägend. Aber ihre Bedeutung lässt nach. Zu tief sind wohl die Zerwürfnisse – zu hoch die Kompromisse der neuen Bündnisse mit konservativen Parteien – zu schwer die Niederlagen der letzten Jahre.

Insbesondere dort, wo sich offene Spaltungen innerhalb der Parteien zeigen, tritt die politische Schwäche deutlich hervor. Es gelingt nicht mehr (genügend) eigene Mitglieder und Kader auf die Straße zu bringen. Entsprechend nimmt ihre Bedeutung bei der gewerkschaftlichen Mobilisierung ab. Es ist offen ob neue politische Strömungen bzw. welche die Lücke füllen.

3. Kämpferischere Forderungen bei Zunahme Arbeitskämpfe

Die neue Generation zeigt sich kämpferisch. Die Bereitschaft zum Arbeitskampf steigt. In der Arbeitskampfbilanz 2022 bilanziert das WSI (WSI 2023):

„Innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte gehört das Jahr 2022 [und auch 2021] sowohl im Hinblick auf die Anzahl der Streikenden als auch auf die arbeitskampfbedingten Ausfalltage zu den eher streikintensiveren Jahren.“

Diese Aussage werden auch durch die Daten der „offiziellen“ Streikstatistik gestützt. (Bundesagentur für Arbeit 2022) Zu beachten ist die große Differenz zwischen beiden Erhebungen – teilweise um den Faktor 10. Die Bundesagentur erfasst keine Warnstreiks, sondern nur „echte“ Streiks. Letztere sind aber in Deutschland selten.

„Der unbefristete Erzwingungsstreik mit vorheriger Urabstimmung, der aus Gewerkschaftssicht die höchste, selbst bestimmte Eskalationsstufe eines Arbeitskampfes darstellt, findet in Deutschland seit längerem nur in Ausnahmefällen statt und kommt dann zumeist im Rahmen firmenbezogener Tarifkonflikte zur Anwendung. Nicht selten bringt schon allein die glaubhafte Androhung eines Erzwingungsstreiks Bewegung in stockende Verhandlungen.“
WSI (2023, S. 5)

Auch berücksichtigt die Bundesagentur für Arbeit nur genehmigte Streiks in „deutschen“ Betrieben. „Wilde“ Streiks oder auch Arbeitsniederlegungen ausländischer Arbeiter auf deutschem Boden werden ignoriert. So wird wohl weder der Streik beim Lieferdienst Gorilla (Aschemeyer 2023) noch der erfolgreiche Arbeitskampf georgischer und usbekischer Trucker (Tügel 2023) Teil der Statistik sein.

Hintergrund der zunehmenden Arbeitskämpfe sind die auf breiter Front schrumpfenden Reallöhne. Drei Jahre hintereinander sanken die Löhne – interessanterweise ohne Ausweitung der Arbeitslosigkeit. (Kleinwächter 2020) Hintergrund ist neben der Corona-Pandemie inkl. massiver Kurzzeitarbeit, die ab Sommer 2021 anziehende Inflation. Als Einstieg in den Zusammenhang von Lohnniveau, Preisentwicklung und Arbeitskämpfen sei der JACOBIN-Artikel empfohlen. (Schmalz 2023)

Eine solche Entwicklung vollzieht sich nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Eurozone. Dabei übertreffen die Einbrüche der letzten zwei Jahre die Lohnrückgänge im Zuge der Wirtschaftskrisen 2008 und 2011 bei weitem. In den Medien wird diese Entwicklung oft ignoriert, heruntergespielt oder als notwendiges Opfer im Rahmen des Ukraine-Russland-Konfliktes dargestellt. Diese Positionen sind sowohl falsch als auch langfristig verherrend für die ökonomische Entwicklung der EU.

Die anschließende Grafik zeigt die Entwicklung der Tariflöhne in der Eurozone. Es darf davon ausgegangen werden, dass die außertariflichen Löhne sich deutlich schlechter entwickelt haben. Insofern unterzeichnet die Grafik den realen Verlauf. Eine ausführliche Studie zur Entwicklung der Tariflöhne in der Eurozone findet sich auf den Seiten des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI). (Janssen und Lübker 2023)

4. Propaganda wirkt

Am 1. Mai zeigt sich auch, wie von konservativer Seite Arbeitskämpfe gezielt mit Gewalttätigkeit in Verbindung gebracht werden. Ein bewährtes Mittel – egal ob bei Sozialprotesten (Wangerin 2022), Klimaaktivisten (Funk 2023) oder Gegenposition zu Corona (Müller 2023). Alle diese Bewegungen sind angeblich gewalttätig, wenn nicht sogar terroristisch, gegen Demokratie und Wohlstand gerichtet und gehören mit Polizeigewalt bekämpft.

Leider wirkt das propagandistisches Framing. Auch aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis fragten mehrere Personen, warum ich denn zum 1. Mai fahre? Ob ich nicht zu erwachsen sei um „Steine zu schmeißen“? Selbstredend nehmen Menschen mit solchen Positionen nicht an den Demonstrationen teil.

Das Framing funktioniert auch deshalb so gut, weil es durch reichweitenstarke Massenmedien inkl. des öffentlichen Rundfunk übernommen und multipliziert wird. Die weitere Verstärkung durch den Google-Algorithmus tut sein Übriges. Bei der Nutzung der Google-Suche mit den Suchbegriffen „1. Mai Demo Berlin“ kommt ein Schwall von Meldungen von Polizei bzw. ihren Einsätzen. Politische Forderungen der Gewerkschaften werden nicht verlinkt. Übrig bleibt die Botschaft: Der 1. Mai ist eine Gewaltveranstaltung.

Neoliberale Diffamierung

Dazu gesellt sich eine weitere tief neoliberale Behauptung: Gewerkschaften und von ihnen angezettelte Arbeitskämpfe würden den Arbeitslosen schaden. Weil Linke unsolidarisch mit den Schwachen sind. Aufschlag dieses Jahr u.a. Nikolaus Blume im Spiegel. (Blume 2023)

Es ist eine klassische These der Neoliberalen. Verkürzt: Gewerkschaft schotten aus Eigennutz den Arbeitsmarkt ab. Ihre Mittel sind Anforderungen an die Qualifikation, Kündigungsvorschriften und soziale Auswahlkriterien. Menschen mit einem Arbeitsplatz profitieren durch überhöhte Lohnsteigerungen. Schlecht qualifizierte Arbeitslose können nicht mehr angestellt werden, weil das nur über niedrigere Löhne realisierbar wäre. Die sozialen Unternehmer mit goldenen Herzen würden doch so gerne Arbeitsplätze für alle schaffen – nur leider machen die nur an sich selbst denkenden Linken alles kaputt.

„Das Gefühl, dass es hier ums allgemeine Interesse geht, ist gänzlich abwesend; die gesellschaftliche Funktion der Gewerkschaften taucht im Diskurs [von konservativer Seite her] nicht mehr auf. […] Über Gewerkschaften wird so gesprochen, wie über Wirtschaftslobbys gesprochen werden müsste: Ihnen werden eigennützige Motive, Partikularismus und Gier vorgeworfen, ihre Redlichkeit wird in Zweifel gezogen.“
Leo Fischer (2023)

Die Argumentation kam u.a. von Friedrich August von Hayek in den 1930er Jahren im Rahmen Weltwirtschaftskrise auf. Stichworte – Befürwortung Austrofaschismus und Zerschlagung der Gewerkschaften. (Wall-Strasser 2020) Das Argument, steigende Löhne erhöhen die Arbeitslosigkeit, findet sich auch in der Mindestlohndebatte. Es wurde bereits vor mehr als zehn Jahren wiederlegt. (Oesch 2010)

Sehr interessant zu diesem Thema ist die aktuelle Metastudie des Schweizer Gewerkschaftsbundes.  (Bühler und Lampart 2023) Kurz gesagt: Starke Gewerkschaften und zentrale Lohnverhandlungen verringern die (Lohn-)Ungleichheit, steigern die volkswirtschaftliche Produktivität und begrenzen Ausschüttungen an die Kapitalseite. Besonders profitieren davon untere Lohngruppen. Eine gute Zusammenfassung gibt es in der WOZ. (Wegelin 2023)

Übrigens lässt sich der obige Mechanismus durch Marktabschottung überproportionale Lohnerhöhung durchzusetzen, empirisch nachweisen. Beispiele finden sich bei Piloten, Investmentbankern oder auch beim Oberen Management. Aber diese Gruppen werden eigentlich nie beim Gewerkschafts-Diss erwähnt.

Bessere Löhne = Widerstand gegen das heutige Wirtschaftssystem?

Leo Fischer weißt in seiner Kolumne einen interessanten Punkt hin. (Fischer 2023) In der heutigen von Rationalisierung durchzogenen Wirtschaft, ist für Streik kein Platz. Weder eine just-in-time-production noch ein lean-management oder ein 24h-Service sehen Arbeitskämpfe vor. Alles muss reibungslos funktionieren – es darf keine Unterbrechungen geben. Aber die entsprechenden Löhne bzw. Personalausstattung wollen die Unternehmen besser vermeiden.

„So sind die Gewerkschaften in der paradoxen Situation, den Kampf gegen den Effizienzdruck zu führen inmitten von Systemen, die jeden Reibungsverlust zum Problem anderer Leute machen. Statt die zusammengesparte Pflege oder den ruinierten Nahverkehr zu kritisieren, fällt die Wut auf die Wenigen, die dem Zusammensparen entgegentreten. Die durch Einsparungen entzogene Lebensqualität erzeugt keinen Protest; die durch Streik kurzfristig irritierte Lebensqualität erntet hingegen geballte Wut.“
Leo Fischer (2023)

Entsprechend dem Drang nach immer höheren Profiten werden die am 1. Mai prominent vorgetragenen Forderungen wie Ausweitung der Beschäftigung im Sozial-, Sicherheits-, Verwaltungs- und Bildungssektor; mehr Investitionen in die Aus- und Weiterbildung von Geringqualifizierten; Höhere Qualität des Unterrichtes an (berufsbildenden) Schulen; umfassendere Anerkennung (ausländischer) Abschlüsse; altersgerechte Arbeitsplätze usw. von den Konservativen ignoriert.

Gibt es von Ihnen andere konstruktive Vorschläge? Außer Gewerkschaften sind doof und Löhne müssen sinken?

Es ist wie es ist – zum Arbeitskampf gibt es auch in der Sozialen Marktwirtschaft keine Alternative.

Impressionen 1. Mai Berlin

Literaturverzeichnis

Aschemeyer, Moritz (2023): Streikrecht. Arbeitskampf bei Gorillas als Präzedenzfall. In: neues deutschland, 26.04.2023 (96), S. 10.

Blume, Nikolaus (2023): Den Gewerkschaften sind die Arbeitslosen wohl egal. 2,6 Millionen Menschen ohne Jobs. In: Spiegel, 01.05.2023.

Bühler, Joël; Lampart, Daniel (2023): Vom Wert der Gewerkschaften. Eine Metastudie zum Einfluss von Gewerkschaften und Gesamtarbeitsverträgen auf Löhne, Arbeitsbedingungen und Produktivität. Schweizer Gewerkschaftsbund. Bern.

Bundesagentur für Arbeit (Hg.) (2022): Streikstatistik – Deutschland und Länder. Jahreszahlen und Zeitreihe.

Deutscher Gewerkschaftsbund (Hg.) (2023): Tag der Arbeit. UNGEBROCHEN SOLIDARISCH.

Fischer, Leo (2023): Der Streik als Feindbild. In: neues deutschland, 05.03.2023, S. 8.

Funk (Hg.) (2023): Letzte Generation: Ist das schon Terrorismus? ARD. Online verfügbar unter .

Janssen, Thilo; Lübker, Malte (2023): Europäischer Tarifbericht des WSI – 2022 / 2023. Inflationsschock lässt Reallöhne europaweit einbrechen. Düsseldorf (Europäischer Tarifbericht, 86).

Kleinwächter, Kai (2020): Arbeitsmarkt – Stand – Entwicklung. zeitgedanken.blog. Potsdam.

Klingsieck, Ralf (2023): Einheitsfront gegen Rentenreform in Frankreich. In: neues deutschland, 02.05.2023.

Müller, Bernd (2023): Studie über Montagsdemonstrationen. Wie Feinde der Demokratie konstruiert werden. In: telepolis, 05.03.2023.

Oesch, Daniel (2010): Mindestlohn schadet Ungelernten nicht. Hg. v. Hans Böckler Stiftung. Düsseldorf.

Schmalz, Stefan (2023): Vertagte Arbeitskämpfe. In: JACOBIN, 27.04.2023. Online verfügbar unter .

Tügel, Nelli (2023): Streik in Gräfenhausen. Lkw-Fahrer mit Sieg. In: neues deutschland, 04.05.2023.

Wallrodt, Ines (2023): EVG-Vize Cosima Ingenschay: »Die Wut ist groß«. In: neues deutschland, 23.05.2023.

Wall-Strasser, Sepp (2020): Gewerkschaften gehören bekämpft und zerschlagen. Hg. v. Arbeit & Wirtschaft. Wien.

Wangerin, Claudia (2022): Im Zweifel rechts. Framing für Sozialproteste, die noch gar nicht angefangen haben. In: telepolis, 18.07.2022.

Wegelin, Yves (2023): Was bringen Gewerkschaften? In: WOZ, 05.01.2023. Online verfügbar unter .

Weiermann, Sebastian (2023): Streikkonferenz in Bochum: Wachsende Gewerkschaftsmacht. In: neues deutschland, 15.05.2023.

WSI (Hg.) (2023): WSI-Arbeitskampfbilanz 2022. Hans Böckler Stiftung.

Zeise, Simon (2023): Streiks in ganz Deutschland. Ein nötiger Weckruf für die Politiker! In: Berliner Zeitung, 24.03.2023.

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