Was bleibt übrig? – Aber auch: Was ist Links? – Mit diesem Wortspiel eröffnete Prof. Klaus Dörre am 27. Juni 2024 seine Abschiedsvorlesung. Eine Zusammenfassung findet sich auf den Seiten der jungen Welt. (Göpfert 2024) Im folgenden sieben Thesen aus seiner Vorlesung. Die Kritik erfolgt in zweiten Artikel in wenigen Tagen.
1. Machtinstrument und Selbstindifikation
Es ist eine gängige These, dass sich gegenwärtige politische Strömungen kaum mehr in einem Links-Rechts-Schema verordnen lassen. Hauptargument: In einer fragmentierten Gesellschaft sei eine eindeutige und wissenschaftlich fundierte Zuordnung kaum möglich. Dörre weißt dieses Argument klar zurück:
„Im Zweifelsfalle begegnen definitionsmächtige politische Akteure dieser Problemformel ´Komplexität` mit einem Axelzucken. Denn sie wissen um die orientierende Funktion dieser antithetischen Dyade. Deshalb hat sich die Links-Rechts-Unterscheidung aller gesellschaftlichen Veränderungen zum Trotz über Jahrhunderte hinweg gehalten.“
Prof. Klaus Dörre (2024)
Das Links-Rechts-Schema ist real, weil es ein wirksames Instrument der Massenmobilisierung ist. Es bietet klare Identifikationsflächen als auch Feindbilder. Seine Schlagkraft wird in den Machtkämpfen mit der AfD sichtbar. Gerade die Undifferenziertheit des Slogans „Gegen Rechts“ ermöglicht umfassende Aktivierungen. Spiegelbildlich dazu, fußt die Propaganda der AfD auf der Legende einer ´links-grünen Unterwanderung` des Staates.
„Elmer Schattschneider, schrieb einmal,
dass die Definition der Gegensätze, entlang derer man diskutiert,
eines der wichtigsten politischen Machtinstrumente ist.“
Dr. Linus Westheuser (Pausch 2024)
Die Unschärfe ist kein Fehler, sondern ein zentraler Nutzen. Sie ermöglicht die Kombination von ständiger Massenmobilisierung, permanenter Wandlung der politischen Inhalte sowie machtpolitischer Koalitionsfähigkeit.
Das links-rechts-Schema funktioniert auch deshalb, weil sich die Mehrheit der Bevölkerung klar auf diesen verortet. Bei Befragungen von Wählern und Karteikadern ergeben sich klare links-rechts-Muster. Linke Parteien haben primär sich als links definierende Wähler und Kader. Ebenfalls haben rechte Parteien primär sich als rechts verortende Wähler und Kader. Diese Zuordnung wird nur in wenigen Themenfeldern durchbrochen. Beispiele wären die Haltung des BSW zu Migration oder die Haltung der FDP zu (einigen) Rechten der LGBTQ-Gruppen.
Befragungen, sei es von Wählern oder „Experten“, ergeben eine klare Trennung des Parteienspektrums in linke und rechte Parteien. Ein Beispiel für eine Befragung von Wählern ist die Studie von Leon Heckmann (Heckmann 2024) – wahrscheinlich eine Master-Abschlussarbeit (Siehe Grafik 1). Die belastbare Expertenbefragung von Dr. Thomeczek, Prof. Wurthmann und Prof. Stecker (Thomeczek et al. 2024) kommt zu leicht anderen Resultaten. Sie ermöglicht eine genauere Unterscheidung der Parteien. (Siehe Grafik 2) Aber die grundsätzliche Erkenntnis steht: Parteien und Wähler lassen sich weitgehend eindeutig auf einer links-rechts Achse verorten.
2. Ursprung von Links und Rechts
Ihren Ursprung fand die Dyade in der ersten französischen Nationalversammlung von 1789. Die Königstreuen bestanden darauf, zur rechten Hand des Königs bzw. seines Statthalters, des Parlamentspräsidenten, zu sitzen. Sie stützten sich auf christliche Symbolik. Laut Bibel nahm Jesus nach seiner Auferstehung an der rechten Seite Gottes Platz – „ein Ehrenplatz, aber auch der Platz der uneingeschränkten Macht.“ (Melui 2021) Den Linken blieb bis heute der Platz „am Katzentisch der Macht“. (Dörre 2024)
Diese Symbolik wurde zentral für Selbstverständnis und Einordnung westlicher Bewegungen bzw. Parteien. „Noch heute sitzen im Deutschen Bundestag aus Sicht des Bundestagspräsidenten links bis zur Mitte die Abgeordneten der Linken, der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen, rechts bis zur Mitte die Abgeordneten der bürgerlich-konservativen Parteien CDU und CSU [und rechts außen die AfD].“ (Bake 2014)
3. Linkssein = Utopie der Gleichheit
Laut Dörre sei das zentrale Anliegen linker Strömungen, zu beseitigen, was sie als Hindernis für die Gleichheit der Menschen identifizieren. Daraus ergibt sich eine immanente Spannung zwischen Utopie und Realität, die jedem links-sein innewohnt. Angelehnt an Norberto Bobbio spitzt Dörre zu:
„Die Linke muss utopisch sein, sonst ist sie nicht links. […] Doch früher oder später sieht sich der utopische Überschuss, den die Linke als Antriebskraft benötigt, mit der Notwendigkeit jeder politischen Bewegung konfrontiert, an einem bestimmten Punkt ihrer Geschichte die Macht auszuüben.“
Prof. Klaus Dörre (2024)
4. Protest- und Kampfzyklus nach 1989
Aber Strategie ´ewige Opposition` funktioniert nicht. Wird der Einfluss linker Bewegungen zu groß, muss regiert werden, oder die politische Relevanz geht verloren. Aber einmal an der Macht zeigt sich schnell, dass Utopien (kurzfristig) nicht realisierbar sind. Die Enttäuschung der Unterstützer führt zum Verlust der Macht. In Folge entstehen Protest- und Kampfzyklen, die durch den Auf- und Abstieg linker Bewegungen gekennzeichnet sind.
Der Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus raubte vielen Linken die Vorstellungskraft einer besseren Gesellschaft. Die Linke glaubte, ihre Fähigkeit zur Utopie zu verlieren.
Entgegen den Erwartungen gewann aber eine reformierte Linke schnell wieder an Einfluss. Am Anfang stand die globalisierungskritische Bewegung u.a. mit ATTAC und den Weltsozialforen. Sie legten den Grundstein zum Aufschwung linker Kräfte nach der Weltwirtschaftskrise 2008/09. Parteien wie Podemos (Spanien) und Syriza (Griechenland) kamen an die Macht. Ebenfalls prägen Umwelt- und Genderbewegung seit 30 Jahren die Gesellschaften. Selbst in den USA erreichten Befürworter des demokratischen Sozialismus wie Bernie Sanders einen gewissen Einfluss.
Auch in Deutschland zeigte sich die Reorganisation der Linken. 1998 kam eine rot-grüne Regierung mit dezidiert linken Konzepten an die Macht. Sie versuchte u.a. einen ökologischen Umbau der Energie- und Sozialsysteme (Blätter für deutsche und internationale Politik 1997), die Etablierung neuer Familien- und Geschlechterrollen, Erneuerung und Ausbau des Bildungssystems sowie Reformen des Staatsbürgerschaftsrechts. Ihr Regierungsverlust ging einher mit dem Aufstieg der LINKS-Partei zu einer der einflussreichsten links-linken Parteien in Europa.
„Es schien [Anfang der 2010 Jahre], als sei selbst der Sozialismus wieder auf der Siegerstraße. […]
Aber was ist seit damals geschehen? Die LINKE ist im freien Fall. All die links-populären Formationen sind daniedergegangen. […] Auch die Klimabewegung hat sich mindestens ausdifferenziert.“
Prof. Klaus Dörre (2024)
5. Warum der Niedergang?
„Überall dort wo die Linke Macht ausübte, vermochte sie es nicht, Hoffnungen, die ihren zeitweiligen Aufstieg ermöglichten, zu erfüllen. Die Versprechen der Linken für eine bessere Gesellschaft sind nirgendwo eingelöst. […] Insbesondere die Vermögensverteilung, hat global wie national obszöne Ausmaße angenommen. […] Aber obwohl breite Bevölkerungsgruppen eine stärkere Umverteilung fordern […] glaubt kaum jemand ernsthaft, dass die Linke […] das System verändern oder zumindest die Ungleichheit abmildern könnte.“
Prof. Klaus Dörre (2024)
Dörre warnt: Wenn die Linke keine realistische Perspektive bietet, setzen Mehrheiten auf rechtsextreme bis faschistische Strömungen. Es droht eine Entwicklung vergleichbar den 1920/1930er Jahren.
6. Zukunft
Für Dörre „war und ist die Linke nach 1989 in ihren dynamischsten Teilen noch immer eine feministische, ökologische und anti-rassistische Linke. Gerade dieser Teil war in den zurückliegenden Dekaden überaus erfolgreich.“ Insbesondere etablierte sie ein neues Verständnis der Umwelt-Mensch-Beziehung und ging die Gleichstellung der Geschlechter sowie strukturelle Diskriminierung von People-of-Color an.
Aber die Haupttriebkraft des kapitalistischen Expansionismus, die private Verfügung über Produktionsmitteln, geriet aus dem Blick. (Pausch 2024) Viele Forderungen der ökologischen und feministischen Bewegung sind auch im Kapitalismus umsetzbar – ohne Besitzverhältnisse oder gar Akkumulationsregime in Frage zu stellen.
Nur eine winzige Herrschaftsklasse, von weniger als einem Prozent der Gesellschaft, trifft die Entscheidungen über Großinvestitionen. Ohne Angriff auf diese Machtverteilung ist die Linke unfähig zu einem Systemwechsel. Zumal in der Eigentumsfrage die Gemeinsamkeiten zwischen links und rechts rasch aufgebraucht sind. Hier sind selbst Bündnisse mit mitte-rechts Strömungen kaum möglich.
Für Dörre „ist eine Linke des 21. Jahrhundert noch nicht geboren, sie muss erst noch entstehen.“ Die erneuerte Bewegung müsste „Arbeit, (Über-)Ausbeutung und Klasse wieder ins Zentrum linker Politik rücken.“ Die transformative Linke braucht ein „Befreiungsprojekt, das nur darin bestehen kann, den Ausschluss großer Mehrheiten von Produktions- und Investitionsentscheidungen mittels radikaler Ausweitung der Demokratisierung von wirtschaftlicher Entscheidungsmacht zu überwinden.“
Dr. Linus Westheuser formulierte es in einem Interview mit zeit online deutlicher:
„Für die linken Parteien ist [die Rückkehr zu Verteilungskonflikten] ganz einfach eine Überlebensfrage. Wenn eine Repolitisierung von Verteilungskonflikten unmöglich ist, dann wird es auf längere Sicht keine Linken mehr brauchen. Sie werden dann aussterben, wie in der Vergangenheit Bauern- oder Regionalparteien.“
Dr. Linus Westheuser (Pausch 2024)
Literaturverzeichnis
Bake, Rita (2014): Woher kommt die Einteilung der politischen Parteien in „links“ und „rechts“? Hg. v. Hamburger Abendblatt. Hamburg.
Blätter für deutsche und internationale Politik (Hg.) (1997): Die ökologische Steuerreform. Gemeinsames Konzept der deutschen Umweltverbände vom 18. Juni 1997. Berlin.
Göpfert, Claus-Jürgen (2024): What’s left? Tristesse global. In: junge Welt, 01.07.2024, S. 10.
Heckmann, Leon (2024): Ist das BSW eine linke Partei? Eine Analyse der politischen Selbstverortung der Wähler*innen bei der Europawahl 2024. Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft. Berlin.
Melui, Daniel (2021): Zur Rechten Gottes. Hg. v. bibelstudium.de. Wermelskirchen.
Pausch, Robert (2024): „Der Begriff der Arbeit wird gerade von rechts besetzt„. Interview von Linus Westheuser. In: zeit online, 01.02.2024.
Thomeczek, Jan Philipp; Wurthmann, L. Constantin; Stecker, Christian (2024): Die Parteienlandschaft zur Europawahl 2024. Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft. Berlin.
Weitere Informationen zum Urheberrecht unter Kontakt/Impressum/Lizenz.
Bei Interesse können die statistischen Daten für die Grafiken per Mail zugesandt werden.


Ein Gedanke zu “What´s left? – Klaus Dörre”